91 7 aktiv oder Passiv ein WS-1B. Wenn’s nur ein WS-11 wäre, hätte ich keine Angst. Aber WS-1B schießen viel weiter. Geschwindigkeit: Mach 5. Reichweite: 180 Kilometer. Jedes Geschoss: 150 Kilogramm schwer. Was ist dein Zeus mit seinen Blitzen dagegen? Etwas für Babys, die noch an den Weihnachtsmann glauben.“ „Sei nicht so altklug“, murmelt Paul verstört und ist dennoch beeindruckt von seiner Tochter. Im April ist Lena zwölf Jahre alt geworden, doch seit Beginn der Krise vor zwei Monaten wirkt sie auf ihn viel reifer. Als die Vororte der Stadt das erste Mal mit Raketen beschossen wurden, hatte Paul dies noch als großes Drama erlebt. Mit seiner Frau, der Tochter und seiner Mutter lief er die vier Treppen hinunter in den Keller. Dort traf er sämtliche Nachbarn und einige zufällige Passanten – Menschen, die das Schicksal an diesem Tag zu dieser Abendstunde in diese Straße und genau in der Minute, als der Beschuss begonnen hatte, vor dieses Haus verschlagen hatte. Damals hielt Lena sich die Hände vor das Gesicht, als könnte sie damit die Welt um sich herum verbergen. Pauls Frau, eine Ärztin, meinte trocken, sie müsse ins Krankenhaus, in einer halben Stunde beginne ihre Schicht, aber er ließ sie nicht gehen. Die Mutter erinnerte sich an ihre Eltern und an deren Erzählungen vom letzten großen Krieg, bis man sie bat, die Klappe zu halten. In diesem Augenblick wollte das niemand hören. Als die Kellertür von innen verschlossen wurde, verstummten alle und ließen sich auf den Holzbänken nieder, die einige Tage zuvor hastig in den Gang geschoben worden waren, der zu den Kellerabteilen führte. Im fahlen Licht der einzigen noch funktionierenden Neonröhre sahen die Gesichter der Menschen schmal, verbraucht und gespenstisch aus. Als das Heulen der Granatwerfer lauter wurde, als würde eine Meute hungriger Wölfe das Haus umkreisen, verzerrten sich die Gesichter, wurden zu Karikaturen ihrer selbst, zu Fratzen aus der Finsternis, Dämonen der Angst. Und als das Licht auf einmal zu flackern und die Neonröhre zu summen begann, musste Paul an die Flagellantenprozession von Francisco de Goya denken. Eine Abbildung dieses Gemäldes hatte er vor gut zehn Jahren durch Zufall im Internet entdeckt und sich davon sofort angesprochen gefühlt, mit einer Mischung aus Schaudern und Begeisterung, Ekel und Lust hatte er seinen Blick nicht davon losreißen können. Bis dahin hatte er sich kaum für Kunst interessiert und noch nie etwas von diesem spanischen Maler gehört. Inzwischen hatte er einige Bücher über Goya gelesen, Spielfilme und Dokumentationen gesehen, und wenn er die Augen schloss, konnte er dessen Bilder aus dem Gedächtnis erstehen lassen – so klar und scharf und voller Details, als hätte er sie selbst erdacht und gemalt. Nach der Entwarnung waren alle so schnell wie möglich hinaus auf die Straße gelaufen. Sie machten den Eindruck, als seien sie nur knapp dem Erstickungstod entronnen, und auch Paul sog die frische Abendluft und den Duft des Frühlings ein, wie er es noch nie getan hatte, er füllte seine Lungen, bis sie zu platzen 30 35 40 45 50 55 60 MUSTER
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