das deutschbuch. Übungsband 3/4/5 + E-Book

7 1 fälle nenlicht des noch sommerlich warmen Septembertages, die Straße, die Stimmen der Passanten. Das alles rückt so plötzlich weg, als ob eine riesige Hand im Puppentheater die Kulisse weggezogen hätte. Das Leben verschiebt sich manchmal wie eine Kulisse, und man kann gar nichts dagegen tun, als mitzugehen in die neue Wirklichkeit, die die nächste Kulisse bietet. […] Meine Finger zittern, die Mütze fällt mir aus d Händen und auf die feuchte Straße. Bevor ich mich bücken kann, greift jemand anderes danach. Ich kenne die Form dieser Hände. Unzählige Male habe ich sie gestreichelt, einige wenige Male gekratzt und versucht, sie von mir wegzudrücken. Wir sehen uns an. Er hat immer noch langes Haar. Strähnen, die ihm ins Gesicht fallen. Er ist noch schlanker geworden. Die Wangenknochen stehen stärker hervor. Früher fand ich, dass er das schönste Gesicht von allen hatte. Trotz der gebrochenen Nase. Fahrradunfall in der Jugend. Ich fand sogar diesen kleinen Buckel auf sein Nasenrücken schön, wie alles an ihm. Er hebt die Mütze auf und sieht mich erst, als er sich wieder aufgerichtet hat. Bei ihm dauert es länger. Bis er mich erkennt. Meine Pupillen haben sich längst normalisiert, während seine sich noch immer weiten. Wir stehen reglos. Er hält immer noch das Stückchen Stoff fest, das mich angelockt hat, wie ein passender Köder bestimmte Fische anlockt. Sein Adamsapfel springt einmal rauf und runter. In mir liefern sich der Impuls, schützend die Hand vors Gesicht zu halten, und der Impuls, ihm um den Hals zu fallen, einen wilden Zweikampf. Ich entscheide mich fürs Nichtstun. Er lächelt. Sein Lächeln ist schief auf die Seite verzogen. Er räuspert sich. Ich will auch gerne lächeln. Doch die Lippen gehorchen mir nicht. Er sagt: „Darf ich dir was schenken?“ Ich finde das lächerlich. Ich habe so viel, er noch weniger als zuvor. Er streckt mir die Mütze entgegen. Ich schüttele den Kopf. Der Spiegel rutscht mir aus der Umhängetasche und zerschellt in tausend silbern glänzende Scherben auf dem Asphalt. Ich knie mich hin und versuche, die Scherbenstücke zu ordnen. So wie mein ganzes Leben. Diesmal kommt mir niemand zu Hilfe. Ich muss es allein schaffen. Wie konnte es nur so weit kommen? Das frage ich mich. Oft. Die Häufigkeit dieser Frage hat die Antwort nicht leichter gemacht. Denn jedes Mal war die Antwort eine andere, eine neue. Und jede dieser Antworten scheint endlich die richtige zu sein. Nur wenig später erwische ich mich aber trotzdem dabei, erneut die gleiche Frage zu stellen. Rabinowich, Julya: Hinter Glas. München: Carl Hanser Verlag 2019, S. 9–13 30 35 40 45 50 55 MUSTER

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