das deutschbuch. Übungsband 3/4/5 + E-Book

49 4 das/dass In der Neuzeit erhielt die Untätigkeit klassenkämpferische Brisanz: Trägheit musste man sich leisten können, sie wurde zum Privileg der Adeligen und später der Couponschneider, die von den Erträgen ihrer Wertpapiere lebten. Ihnen allen galt das Verdikt, dass Lenin aus dem christlichen Mittelalter übernahm: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.“ Einher ging ein Kult der Arbeit, die zur Quelle des Stolzes mutierte. Worüber Nietzsche spottete: „Der Hang zur Freude nennt sich bereits ,Bedürfnis nach Erholung‘ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen.“ Aber diese Scham sollten wir überwunden haben. Wir leben doch in einer Freizeitgesellschaft. Wir fordern kürzere Arbeitszeiten oder berauschen uns an der Vorstellung, das uns Roboter und künstliche Intelligenzen bald alle Mühsal abnehmen. Aus dem „Bedürfnis nach Erholung“ ist ein sozialstaatlich abgesichertes Recht auf Erholung geworden, ein Urlaubsanspruch. Wir könnten also mit reinem Gewissen dem Nichtstun frönen. Warum tun es so viele nicht? Ist der Kapitalismus schuld? Soziologisch orientierte Denker tendieren – wenig überraschend – dazu, dem Kapitalismus die Schuld in die Badeschuhe zu schieben. Wie schon 1970 Jean Baudrillard: Die „Produktionsverhältnisse“ zwängen den Sommerfrischler, auch seine Urlaubszeit als „Produktivkraft“ zu nutzen. Jeder will „der am besten Erholte, der am kräftigsten Gebräunte, der Glücklichste sein“. Zeitlos und existenziell tiefer bohrte Pascal um 1650 in der Conditio humana: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, das sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Wir sind zum Nichtstun nicht fähig, weil wir die Gegenwart nicht leben können. Entweder entfliehen wir ihr in Richtung Zukunft, verschieben unser Glück: Wenn das Projekt fertig ist, dann gönne ich mir einen tollen Urlaub. Oder wir bedauern dass Verstreichen des Moments und archivieren ihn voreilig als Vergangenheit: Verdammt, es ist Sonntag, morgen muss ich wieder ins Büro. Der Augenblick, den wir im Urlaub intensiv erleben und auskosten wollten, bleibt eine unheimliche Leerstelle, ein zu meidender Abgrund: „So verläuft das ganze Leben: Man sucht Ruhe, indem man Hindernisse bekämpft. Und wenn man sie überwunden hat, wird die Ruhe unerträglich, durch die Langeweile, die sie mit sich bringt.“ Aber ist mit Pascals „Pensées“ schon alles zur Muße gedacht? Können wir sie nicht doch genießen? Die Muße ist die beste Schule Dass war das Ziel der antiken Philosophen. Im alten Athen und Rom galt Arbeit als Negation des erstrebenswerten Zustands: „Negotium“ statt „Otium“, „Aschole“ statt „Schole“. Vom Zwang, sich um dass Lebensnotwendige zu kümmern, befreite sich der freie Mann, indem er Sklaven und Frauen für sich schuften ließ. Damit stand er, wenn er sich nicht gerade im Krieg mit Seinesgleichen die Schädel einschlug, vor 35 40 45 50 55 60 65 MUSTER

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