35 3 gross- und kleinschreibung Cute ist eine Haltung Mittlerweile lässt sich die Präsenz des Niedlichen überall beobachten. […] Das Wort „cute“ ist auch im deutschsprachigen Raum ein äußerst beliebter Anglizismus geworden. Seine Verwendung macht deutlich, dass Niedlichkeit nicht nur eine visuelle Erscheinungsform ist, die wir zuvorderst mit Konsumgestaltung assoziieren. Vielmehr drückt sich darin mittlerweile eine Haltung aus; cute ist – wie ehedem cool – eine Attitüde. Was ein cuter Look oder ein cuter Gedanke oder eine cute Person ist, kann man zum Beispiel auf dem Instagram-Profil der Filmemacherin und Autorin Jovana Reisinger lernen. Sie […] findet ziemlich viel cute – vor allem solche Dinge, auf die sonst gerne mit Herablassung geschaut wird und von denen man sich als gebildete Person gemeinhin milieumäßig abzugrenzen pflegt (glitzernde Fingernägel oder Fastfood). Die Charakterisierung als cute ist aber keine Geste der kulturellen Aufwertung […], sondern eine Geste der Anerkennung von Andersartigkeit, Skurrilität oder Extravaganz. Jemanden oder etwas cute zu nennen, hat etwas Versöhnliches und Nachsichtiges. Schwächen werden mit Humor genommen, Verletzlichkeit wird geschätzt. Cute ist nicht ironisch gemeint, wenn auch trotzdem mit einem Augenzwinkern versehen, das andeutet, dass es um mehr geht als nur um (naive) Beschönigung oder Toxic Positivity. Im Gegensatz zu cool kann mit cute ausgedrückt werden, dass man emotional involviert ist – und nicht alles an einem abprallt. Man steht nicht über den Dingen, sondern in ihnen. Cuteness ermöglicht also etwas, das in der Gegenwartsgesellschaft mehr denn je ersehnt wird: Nahbarkeit, Intimität und daraus resultierend Gemeinschaftlichkeit. […] Sehnsucht nach Empathie, Kollektivität und Solidarität […] Niedliches beruhigt, entspannt, kann Freude oder Trost spenden. So wird das plötzliche Interesse an der Cuteness zu Recht als ein Rückzug ins Kuschelige, Heimelige, Kleine aus einer immer größer, komplexer und anfälliger werdenden globalisierten Welt interpretiert. Besonders im Netz werden zum Beispiel Inhalte von niedlichen Tieren oft als Eskapismus vor den die Feeds und Timelines dominierenden Nachrichten über die Folgen von Klimawandel, Krieg und Pandemie angesehen. […] Natürlich darf es bei dieser bewussten Einstellung nicht zur völligen Ausblendung von Kalamitäten jeder Art oder Negativität kommen. Vielleicht hat sich deshalb hierzulande auch der Anglizismus cute (statt süß oder niedlich) durchgesetzt. Nämlich um anzuzeigen, dass damit eine wohlüberlegte Verwendung einhergeht, die nicht naiv, weltfremd und toxisch positiv ist. Das kulturelle Selbstverständnis des 20. Jahrhunderts war geprägt von Avantgardismus und Coolness. Es war ein hochkulturelles Selbstverständnis, in der Regel elitär, distinktiv, unnahbar. Und es ging mit individuellen Verhaltensweisen einher, bei denen Affekte und Gefühle möglichst unter Kontrolle gehalten und Verletzlichkeit und jede Art von Schwäche verborgen werden sollten. Coolness stand dem Wortsinn nach 35 40 45 50 55 60 MUSTER
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