das deutschbuch. Übungsband 3/4/5 + E-Book

150 11 Bindestriche Textbeispiel: Essay Was zum Teufel taten wir, bevor es Smartphones gab? Wenn Martin Heidegger über die Langeweile philosophierte, kam eben diese nicht auf. Im Gegenteil: Der ganze Lehrsaal hörte ihm gebannt zu. In einer Vorlesung von 1929 vertiefte er sich fesselnd in diese fahle Stimmung: Man sitzt auf dem „geschmacklosen Bahnhof einer verlorenen Kleinbahn“ fest, muss vier Stunden auf einen Anschlusszug warten. Man zeichnet Figuren in den Sand, zählt Bäume – und weil sich die Zeit nicht totschlagen lässt, reißt sie Abgründe auf, die für existenzielle Schwindelanfälle sorgen: Woher? Wohin? Wozu? Dem Mann könnte heute geholfen werden. Seit 15 Jahren zücken wir das Smartphone, sobald unser rastloses Tun und Erleben kurz zum erzwungenen Stillstand kommt – in der Schlange an der Supermarktkasse, im Wartezimmer beim Arzt, an der Bushaltestelle. Wir lassen uns von hochenergetischer Musik beschallen, schießen extraterrestrische Invasoren ab, scrollen durch Fotogalerien, agieren asozial in sozialen Medien. Und wir können uns nicht mehr erinnern, was wir vor dieser Weltrevolution unserer Lebenswelt im Angesicht des Nichts-zu-tun-Habens getan haben. Sind wir kulturpessimistisch drauf, zimmern wir uns diese recht rezente Prähistorie so zurecht: Wir summten doch sicher Lieder, memorierten Gedichte, wühlten in der Schatztruhe unserer Erinnerungen, ganz ohne digitale Krücken. Wir kamen vorübergehend zur Besinnung, dachten über unser Leben nach, ganz unkuratiert, ohne algorithmischen Coach. Wer mutig war, sprach reizvoll erscheinende Fremde an, und wenn diese Tollkühnen unverschämtes Glück hatten, wurde Liebe oder wenigstens Freundschaft daraus, wie in der Screwball-Komödie. Wenn hingegen Einsamkeit drohte, griffen wir zum Nokia-Handy, das es in dieser telekommunikativen Steinzeit ja auch schon gab, und riefen einen uns lieben Menschen an, von Stimme zu Stimme, von Ohr zu Ohr. Ach ja, ah so?, höhnen da die Apologeten des Fortschritts und wittern romantische Verklärung. Sie rekonstruieren ganz anderes: Wie wir uns in der momentanen Sinnkrise verzweifelt an alles Gedruckte klammerten und stumpfsinnig durchlasen, was uns vor die Retina kam – Werbetexte auf Plakatwänden, die Hausordnung der Öffis, infantile Sprüche auf Cornflakes-Packungen oder die Liste der Inhaltsstoffe auf Maggi-Flaschen. Und wie sich unser Hirn bald amorph und nutzlos anfühlte wie ein in der Hitze verdorrter Badeschwamm. Weil guter Rat, neue Ideen oder einfach nur wirksame Zerstreuung außer Reichweite waren, nicht per Handy zur Hand. Nur die Fadesse war da, das Nichts, wie im absurden Theater. Hätten Wladimir und Estragon Smartphones besessen – sie hätten nicht endlos ins Leere deklamiert, während sie auf Godot warteten, sondern auf Insta gesurft oder Minecraft gespielt. Meta statt Metaphysik! 5 10 15 20 25 MUSTER

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