das deutschbuch. Übungsband 3/4/5 + E-Book

136 10 Kommas endlich wieder im eigenen Alltag anzukommen und diesen plötzlich nicht mehr ganz so schlimm zu finden. Nun könnte man meinen, wenn ich so ungern verreise, solle ich doch einfach nicht wegfahren. Dennoch sehne ich mich im stressigen Arbeitsalltag in Wien permanent nach dem nächsten Ausflug oder der nächsten Urlaubsreise. Warum? Kommt hier dasselbe Phänomen zum Tragen wie beim Ansehen eines Horrorfilms, nämlich der wohlige Grusel angesichts eines Schreckens, der einen jetzt gerade nicht betrifft? Doch dafür würde es genügen, über vergangene Reisen nachzudenken – es erklärt noch nicht, weshalb ich das „Grauen“ erneut wiederholen möchte. Oder verhält es sich ähnlich wie mit den Erinnerungen an die Schulzeit, die im Nachhinein nostalgisch verklärt werden, obwohl die realen Ereignisse zum Zeitpunkt des Erlebens eher unangenehm waren? Nein, ich glaube, dass die immer wiederkehrende Faszination am unbequemen Ortswechsel eine andere Ursache haben muss. Es bleibt also zu fragen: Weshalb waren all diese mühsamen Reisen, die mir so viel an Energie und Nerven abverlangt haben, im Endeffekt trotzdem irgendwie erholsam? Mittlerweile vermute ich, dass gerade in diesen Strapazen die Erholung liegt. Die zahlreichen Probleme des Alltags lassen sich nur dann verlässlich wegschieben, wenn wir an ihre Stelle (zumindest temporär) andere Probleme setzen. In ganz vielen Varianten begegnet uns dieses Prinzip: Liebeskummer lässt sich am besten durch neues Verlieben therapieren, ebenso wie Schmerz (vermeintlich) gegen Schmerz hilft – und gegen einen stressigen Alltag wirkt wohl am besten ein stressiger Urlaub. Verlorene Koffer, schlechter Service […] Darüber hinaus hat Urlaub die nicht zu unterschätzende Funktion, als Smalltalk-Thema herzuhalten. Auch für die Erfüllung dieser Aufgabe ist es dienlich, wenn die Reise stressig war und vieles nicht geklappt hat. Wer bei der Dinnerparty von der Schönheit des Sonnenuntergangs und dem guten Essen erzählen will, wird eher ein höflich unterdrücktes Gähnen ernten. Niemand hört sich gern die vermeintlich perfekten Erlebnisse aus den immer glücklichen Leben seiner Freunde an. Auch das Nachdenken auf dem Sofa ist keine gute Geschichte, da es mit einem Satz fertigerzählt ist. Ehrliche Aufmerksamkeit und neidlos gespannte Gesichter gewinnt man hingegen für sich, wenn man vom verlorenen Koffer, der unfreiwilligen Nacht auf dem Flughafen und dem schlechten Service im Hotel zu berichten weiß. […] Chana, Daniela: Urlaub ist eine Zumutung. In: Die Presse, 09.07.2023. Online: https://www.diepresse.com/13440960/urlaub-isteine-zumutung?ref=reco_a_ga (26.11.2024) 65 70 75 80 85 MUSTER

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