das deutschbuch. Übungsband 3/4/5 + E-Book

135 10 kommas glücklichsten, wenn ich meine schulfreie Zeit zur Gänze selbst gestalten konnte, und gelegentliche Impulse meiner Eltern wie Zoobesuch, Ausflug oder Spaziergang nahm ich eher widerwillig zur Kenntnis. […] All diese gutgemeinten Betätigungen waren zwar objektiv betrachtet alles andere als schrecklich – und im Nachhinein bin ich meinen Eltern sehr dankbar dafür, dass sie so etwas hin und wieder durchgesetzt haben –, aber sie gingen mir auf die Nerven, weil sie mich von dem abhielten, was mir am interessantesten erschien, nämlich vom Träumen, Nachdenken und Kreativsein. […] Einsteigen nicht mehr möglich Seit damals hat sich viel geändert, und ich wurde selbst Teil des Paradoxons, über das ich mich immer gewundert habe. Heute, als Erwachsene, habe ich zwei anstrengende Berufe, die mir nur spärlich Freizeit lassen, und gestalte meine wenigen freien Stunden so stressig wie nie zuvor. Kaum ein Wochenende vergeht ohne Sport oder Ausflug, dazwischen packe ich allerlei Erledigungen, betreue meine Balkonpflanzen oder dekoriere die Wohnung um, und bevor sich doch so etwas wie Ruhe einstellen könnte, lerne ich ein neues Kochrezept. Oft verabreden mein Freund und ich uns zu Spieleabenden im Freundeskreis, bei denen wir immer wieder neue komplizierte Brettspiele erlernen, deren Anleitungen umfangreich und strukturiert aufgebaut sind wie Lehrbücher. Wer am Samstagabend nach einer langen Arbeitswoche müde und unaufmerksam ist – wie ich es meistens bin –, versteht die Regeln nicht und verliert. […] Wenn ich etwas länger frei habe, nehme ich sogar die Strapazen einer Reise auf mich und habe dabei die meisten denkbaren Stressfaktoren bereits erlebt. Ich habe Nächte auf Flughäfen verbracht, weil Flüge gestrichen wurden, habe Anschlüsse verpasst und Gepäck verloren, bin in Züge eingestiegen, in denen mein reservierter Sitzplatz nicht existierte, weil kurzfristig die Garnitur ausgetauscht worden war. Auch habe ich zweimal in meinem Leben den Fehler gemacht, ausgerechnet an einem Ostermontag quer durch Österreich mit dem Zug fahren zu wollen, der dann stundenlang im Bahnhof stand, weil überfüllte Waggons nicht fahren dürfen und niemand von den Passagieren, die in den Gängen standen, bereit war auszusteigen. […] Wie im Horrorfilm Je größer die Zumutungen ausfallen, umso besser fühlt sich die anschließende Erleichterung an. Eines der schönsten Gefühle, das ich kenne, ist, nach einer mühsamen Reise endlich nach Hause zu kommen, die Tür zu meiner Wohnung aufzusperren, die Koffer abzustellen, mein Sofa, meinen Esstisch, meine Küche wiederzusehen. Der erste Kaffee, den ich mir nach einer Reise endlich wieder nach meiner eigenen Methode (Porzellanfilter) und nach meinen eigenen Vorlieben (sehr schwach und mit sehr viel Milch) zubereite, ist ein lieb gewonnenes Ritual und die Belohnung für die Strapazen, denen ich mich freiwillig ausgesetzt habe. Verlässlich stellt sich ein Gefühl der Versöhnung ein, eine unbezahlbare Freude darüber, 30 35 40 45 50 55 60 MUSTER

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