Denkmal 7/8 + E-Book

36 Österreichische Perspektive: Österreich in den 1920er-Jahren 1.13 M 1: Der Karl-MarxHof in Wien-Döbling ist das bekannteste Beispiel für sozialen Wohnbau im „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit. Foto, unbekannt, undatiert. M 2: Ignaz Seipel (1876–1932) war Prälat und katholischer Theologe sowie christlichsozialer Politiker. 1922–1924 und 1926–1929 war er österreichischer Bundeskanzler. Porträtaufnahme, unbekannt, um 1930. Die innenpolitische Auseinandersetzung in der jungen Republik verschärfte sich in den 1920er-Jahren zunehmend. Zwischen der christlichsozial geführten Bundesregierung und der sozialistischen Wiener Stadtregierung herrschte ein ständiger Konflikt. Die erste große Koalition zerbricht Im Sommer 1920 zerbrach die Regierung Renner nach langen Streitigkeiten zwischen den Koalitionspartnern. Aus den darauffolgenden Wahlen ging die Christlichsoziale Partei (CS) als Siegerin hervor. Sie bildete mit der Großdeutschen Volkspartei (GDVP) eine Koalition. Die Sozialdemokraten gingen in Opposition und waren bis zum Ende der Ersten Republik im Jahr 1933 an keiner Bundesregierung mehr beteiligt. Somit war ein sehr großer Teil der Wählerschaft (35–45 Prozent) stets von der Regierung ausgeschlossen, was das Vertrauen in die neue Staatsform schwächte. Regieren konnten die Sozialdemokraten nur in Wien, das sie zu einer sozialdemokratischen Vorzeige-Großstadt entwickelten („Rotes Wien“). Hier gab es umfassende soziale Zuwendungen, kommunalen Wohnbau, kulturelle und sportliche Angebote für alle sowie eine moderne Bildungspolitik. Die neue Regierung unter Bundeskanzler Ignaz Seipel strebte eine Sanierung der Staatsfinanzen und die Bekämpfung der Inflation an. Dazu wurde beim Völkerbund (s. 1.3) ein Kredit aufgenommen, der an konkrete Vorgaben geknüpft war. Die Regierung verpflichtete sich zu Einsparungen, um die Ausgaben des Staates zu drosseln. Zudem wurde eine Hartwährungspolitik verfolgt, die den Schilling – die neue österreichische Währung – absichern sollte. Radikalisierung Die Konkurrenz der beiden politischen Lager führte bald auch zur Bewaffnung der Rivalen. Auf der katholisch-konservativen Seite der Bundesregierung standen dabei die „Heimwehren“, noch weiter rechts war die „Frontkämpfervereinigung“ angesiedelt; beides waren Vereinigungen ehemaliger Weltkriegssoldaten. Auf der anderen Seite wurde 1923 der „Republikanische Schutzbund“ als bewaffnete Vorfeldorganisation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gegründet. Öffentliche Aufmärsche und Kundgebungen dieser bewaffneten Einheiten radikalisierten die ohnehin instabile Lage der österreichischen Innenpolitik noch mehr. Der „Korneuburger Eid“ der „Heimwehren“ und das „Linzer Programm“ der Sozialdemokraten machten diese Radikalisierung deutlich und gelten als Belege für die Instabilität der Republik. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Hartwährungs- politik, die: Wirtschaftspolitik, die sich um Geldwertstabilität bemüht M 3: Auszüge aus dem „Linzer Programm“ vom 3. November 1926, in dem die Sozialdemokraten ihre Grundsätze festschrieben: Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Eroberung der Herrschaft in der demokratischen Republik, nicht um die Demokratie aufzuheben, sondern um sie in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen, den Staatsapparat den Bedürfnissen der Arbeiterklasse anzupassen und ihn als Machtmittel zu benützen, um dem Großkapital und dem Großgrundbesitz die in ihrem Eigentum konzentrierten Produktions- und Tauschmittel zu entreißen und sie in den Gemeinbesitz des ganzen Volkes zu überführen. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wird die Staatsmacht in den Formen der Demokratie ausüben. Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung […] widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen. Frass, Otto: Quellenbuch zur österreichischen Geschichte 4. 1968, S. 97ff., leicht angepasst. Q MUSTER

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