34 Österreichische Perspektive: 1918 – Neubeginn ohne Revolution 1.12 Am Ende des Ersten Weltkriegs endete nach fast 650 Jahren die Herrschaft der Habsburger in Österreich. An die Stelle des riesigen Vielvölkerstaates traten nun kleinere Länder. Obwohl die Menschen den Bruch als Neuanfang wahrnahmen, gab es in vielen Bereichen Kontinuitäten. M 1: Karl I. (1887– 1922) war der letzte Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Porträtaufnahme, unbekannt, 1917. M 2: Karl Renner (1870–1950). Der sozialdemokratische Politiker war sowohl in der Ersten als auch der Zweiten Republik erster Regierungschef. Außerdem war er von 1931 bis 1933 Nationalratspräsident und von Dezember 1945 bis zu seinem Tod 1950 erster Bundespräsident der Zweiten Republik. Porträtaufnahme, unbekannt, um 1940. Das Ende der Monarchie Am Ende des Ersten Weltkriegs geriet die Donaumonarchie in eine schwere Legitimitätskrise, weil sie die vielen nationalstaatlichen und kriegsbedingten Probleme (u. a. Lebensmittelknappheit, Hungersnot, zunehmender innenpolitischer Druck) nicht mehr lösen konnte. Der greise Kaiser Franz Joseph, das Bindeglied zwischen den rivalisierenden Nationalitäten seines Reiches, war 1916 86-jährig gestorben. Sein Nachfolger Kaiser Karl I. hatte nicht die Autorität, den Staat zu stabilisieren. Der Zerfallsprozess der Monarchie, der bereits viel früher eingesetzt hatte, wurde von der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg beschleunigt. Am 28.10.1918 riefen Tschechen und Slowaken die Republik Tschechoslowakei aus, die Ungarn folgten am 31.10. und am 1.12. gründeten die südslawischen Völker der Monarchie gemeinsam das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Als Karl I. die Herrschaft am 11.11.1918 abgab, existierte sein Reich gar nicht mehr. Seine letzte Regierung war bereits am 30.10. zurückgetreten. Am selben Tag hatte die Nationalversammlung die provisorische Verfassung angenommen. Die Herrschaft der Habsburger war nach 645 Jahren zu Ende. Brüche und Kontinuitäten Die habsburgische Herrschaft endete ohne einen revolutionären Umsturz. Vielmehr wurde des Kaisers Verzicht als folgerichtige Konsequenz des Zerbrechens der Monarchie wahrgenommen. Der Staat „Deutschösterreich“, der am 12.11. proklamiert wurde, war eine Republik. Ein Monarch hatte darin keinen Platz mehr. Trotz dieses Bruchs gab es aber auch viele Kontinuitäten. Die ehemaligen Kronländer wurden zu den Bundesländern des neuen Staates. Die politischen Akteure blieben zunächst dieselben, wobei besonders konservative und deutschnationale Politiker die republikanische Staatsform erst kennenlernen mussten und ihr auch in der Folgezeit kritisch gegenüberstanden. Österreich, der Rest Welche Gebiete das Staatsgebiet der jungen Republik letztendlich umfassen sollte, war zunächst noch unsicher. Mehrere Bundesländer, besonders die westlichen, strebten den „Anschluss“ an das Deutsche Reich an. Dieser wurde allerdings durch die Pariser Vorortverträge untersagt. Außerdem wurden Südtirol und die Untersteiermark abgetrennt. In Südkärnten und dem heutigen Burgenland sprach sich die Mehrheit der Bevölkerung für den Verbleib bei Österreich aus. Eine moderne Sozialgesetzgebung Die ersten freien, gleichen und geheimen Wahlen im Jahr 1919 gewannen die Sozialdemokraten. Karl Renner bildete die erste Bundesregierung, die bis 1920 andauerte. Gemeinsam mit der Christlichsozialen Partei (CS) wurde eine Reihe von wegweisenden Gesetzen auf den Weg gebracht, die u. a. die Abschaffung des Adels und seiner Vorrechte beinhalteten. Zudem wurden eine Kranken-, Pensions-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung eingerichtet, die den österreichischen Sozialstaat begründeten und der Bevölkerung in der schwierigen Nachkriegszeit halfen. Diese hatte vor allem unter der Geldentwertung, dem Zerbrechen des habsburgischen Wirtschaftsraums und der damit verbundenen Unterbrechung der Lieferketten zu leiden. Zusätzlich forderte in den Jahren 1918/19 die Spanische Grippe Zehntausende Todesopfer in Österreich. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Sozialstaat, der: Staat, in dem allen Bürgerinnen und Bürgern gemeinschaftlich finanzierte Sozialleistungen zur Verfügung stehen MUSTER
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjg5NDY1NA==