244 Die Schweizer Isolation (und ihr Ende) Das Neutralitätsprinzip hat in der Schweiz eine weitaus längere Tradition als in Österreich. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich das Land für eine „immerwährende Neutralität“ entschieden. Heute ist dieser Grundsatz längst Teil der Bundesverfassung. Dieser Leitlinie folgend hielt sich die Schweiz auch aus den beiden Weltkriegen heraus – ein Umstand, der dem Land ab 1945 besonders zugutekam, als es einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung erlebte. Obwohl dieser zu einem Gutteil von der Exportwirtschaft und international agierenden Banken abhing, lehnte die Schweizer Bevölkerung bereits mehrmals den Beitritt zu internationalen Organisationen wie der EU ab. Selbst der UNO trat das Land erst 2002 bei, als eine Volksabstimmung mehrheitlich ergab, dass die Neutralität dadurch nicht gefährdet sei. Volksabstimmungen sind kennzeichnend für das demokratische Modell der Schweiz. Sie werden sehr häufig durchgeführt und sind bindend für den Bundesrat. Der Beitritt zur EU wurde bisher stets abgelehnt. So werden die Beziehungen derzeit über „bilaterale Verträge“ zwischen der Schweiz und Brüssel geregelt. Besonders bezüglich der Personenfreizügigkeit gibt es aber laufend politische Probleme zwischen den beiden Partnern, da sich besonders die M 1: US-Präsident Joe Biden (2021–2025) und der russische Präsident Wladimir Putin bei ihrem ersten Treffen im Juni 2021 in der Villa La Grange in Genf. Foto, 2021. rechtspopulistische Schweizer Volkspartei (SVP) gegen die unbegrenzte Einwanderung aus der EU ausspricht. Die „Guten Dienste“ der Schweiz Trotz seiner langen internationalen Zurückhaltung ist die Schweiz und insbesondere die Stadt Genf häufig der Ort internationaler Treffen und Konferenzen. Neben Wien, New York und Nairobi ist Genf eine der vier UNO-Städte und beherbergt zahlreiche internationale Organisationen, wie beispielweise die WHO, die WTO und die WMO. Aber auch das Internationale Rote Kreuz und das Kernforschungszentrum CERN haben ihren Sitz in Genf. Die Stadt war auch häufig Ort wichtiger Vertragsabschlüsse, wie etwa der „Genfer Flüchtlingskonvention“ (1951). Außerdem wurde 1954 hier der französische Indochinakrieg (s. 4.5) beendet, und auch der Friedensvertrag von Dayton 1995 (s. 5.8) wurde in der „Genfer Friedenskonferenz“ (ab 1992) vorbereitet. Das Einwanderungsland Bereits während und nach dem Zweiten Weltkrieg leistete die Schweiz humanitäre Hilfe, indem sie etwa Tausende Kinder aus Österreich und Deutschland aufnahm, um deren gesundheitlichen Zustand zu verbessern. Während des Ungarnaufstands (1956) und des Prager Frühlings (1968) kamen Tausende Flüchtlinge ins Land, während der jugoslawischen Kriege waren es Zehntausende aus Bosnien und dem Kosovo. Deren Integration ist ein bestimmendes Thema in der öffentlichen Debatte. Österreichs ältester Nachbarstaat, die Schweiz, hat sich in vielerlei Hinsicht anders entwickelt als die österreichische Republik. Daneben gibt es aber auch Gemeinsamkeiten der beiden Alpenrepubliken, die sich nicht nur auf den wichtigen Wintertourismus reduzieren lassen. 5.13 Die Schweiz im Herzen Europas: mittendrin und nicht dabei? Guten Dienste, die: Unter dem Begriff „Gute Dienste“ werden in der Sprache der Diplomatie internationale Initiativen eines unbeteiligten oder neutralen Drittlandes zur Beilegung eines Konflikts zusammengefasst. UNO-Stadt, die: Stadt, in der die UNO einen Sitz hat (in Wien z. B. das Vienna International Centre [VIC]) WHO, die: Die World Health Organization (Weltgesundheitsorganisation) erforscht Krankheiten, Epidemien und Pandemien und versucht, die Gesundheit der Weltbevölkerung zu verbessern. CERN, das: Das „Conseil européen pour la recherche nucléaire“ ist die weltweit größte Einrichtung für die Erforschung von Teilchenphysik und Kernforschung. WMO, die: World Meteorological Organization (Weltorganisation für Meteorologie), weltweit führende Institution, die sich mit der Aufzeichnung und Analyse im Bereich der Klimatologie und Klimaforschung beschäftigt 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 MUSTER
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