220 Zwischen „Stagnation“ und Aufbruch im östlichen Europa 5.1 Ära der „Stagnation“ Die beiden Jahrzehnte nach der Absetzung des Partei- und Staatschefs Nikita Chruschtschow im Jahre 1964 sind als Ära der „Stagnation“ bekannt. Die Amtszeit seines Nachfolgers Leonid Breschnew (1964–1982) sowie zum Teil auch jene der kurzzeitigen Staatsoberhäupter Juri Andropow (1982–1984) und Konstantin Tschernenko (1984–1985) zeichneten sich primär durch Stabilität und nicht durch wirtschaftspolitische Dynamik aus. Im innen- wie auch außenpolitischen Interessenszentrum stand die Bewahrung der gegenwärtigen Verhältnisse. Allerdings profitierte das Niveau des materiellen Wohlstands und der sozialen Sicherheit nachhaltig von der Abkehr von stalinistischem Terror sowie der Sprunghaftigkeit und Unruhe unter Chruschtschow. Perestroika und Glasnost Der Begriff der „Stagnation“ wurde nachträglich von dem neuen Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow (1985– 1991) verwendet, der sich durch seine Reformen von der Politik seiner Vorgänger abheben wollte und zwei wichtige Schlagworte prägte: „Perestroika“ (Umbau, Umgestaltung) und „Glasnost“ (Offenheit, Transparenz). Privatwirtschaftliche Zugeständnisse sollten zu einem dringend benötigten wirtschaftlichen Aufschwung führen, während staatliche Verfehlungen in Vergangenheit und Gegenwart (z. B. Tschernobyl) deutlicher angesprochen wurden. Obwohl die mit den Reformen verbundenen Hoffnungen oftmals enttäuscht wurden, war damit ein Prozess der Veränderung eingeleitet worden, der letztlich zum Zerfall der Sowjetunion beitrug. Die Gründung der Solidarność In einigen Ländern des östlichen Europas entwickelten sich in den 1980er-Jahren Bewegungen, die auf eine umfassende Reformierung der sozialistischen Staaten hinarbeiteten. In Polen kam es im Juli/August 1980 zu Streiks, wobei jene in der Lenin-Werft von Gdansk mit der Gründung der Gewerkschaft „Solidarność“ (Solidarität) die größte Bedeutung hatte. Auch wenn das Augustabkommen, das die Gewerkschaft als Opposition zur kommunistischen Regierung anerkannte, durch die Ausrufung des Kriegsrechts (1981–1983) und das Verbot der Solidarność nicht lange Bestand hatte, war ein wichtiger Grundstein für einen demokratischen Wandel gelegt worden. Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen Zensur und Repression prägte die 1980er-Jahre und mündete in (teilweise) freie Wahlen 1989 bzw. 1991. NATO-Mitglieder und Blockfreie Nicht alle Veränderungen im südöstlichen Europa lassen sich anhand der Auflösung des Warschauer Pakts erklären. Jugoslawien, dem als blockfreiem Staat lange eine Sonderrolle zugekommen war, zerfiel in den 1990er-Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg (s. 5.7–5.9). Griechenland hatte seine Militärdiktatur (1967–1974) überwunden und ging den Weg der europäischen Integration (EUBeitritt 1981). Die Türkei erlebte wechselnde politische Mehrheiten nach einem Militärputsch 1980. Zwischen den beiden NATO-Mitgliedern Griechenland und der Türkei steht bis heute die trennende Zypern-Politik um die seit 1974 geteilte Insel. Die sozialistischen Staaten des östlichen Europas standen in den 1980er-Jahren zwischen einer Politik des Bewahrens und dem zunehmenden Ruf nach Veränderung. Teilweise vom Staat selbst, teilweise von zivilgesellschaftlichen Bündnissen eingeleitet, verselbstständigte sich ein Prozess des Wandels. M 1: Nikita Chruschtschow (1894–1971), Politiker und Regierungschef der Sowjetunion. Gemälde von Betyna, um 1965. M 2: Leonid Breschnew (1906– 1982), Politiker und sowjetisches Staatsoberhaupt. Porträtfoto, unbekannt, 1972. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 MUSTER
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