190 Die 1970er-Jahre: Zwischen Krise und Aufbruch 4.13 Historikerinnen und Historiker deuten die 1970er-Jahre als Epochenschwelle des 20. Jahrhunderts in Form einer „weichen“ Zäsur, weil sich auf ökonomischer, sozialer und kultureller Ebene über einen längeren Zeitraum Veränderungen vollzogen hatten. Gemeinhin werden die 1970er-Jahre auch als „die Jahre nach dem Boom“ bezeichnet. Krisenerfahrungen Aus sozioökonomischer Sicht war das wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegsjahre vorbei. Hinzu kam die vom Club of Rome in Auftrag gegebene Studie „Die Grenzen des Wachstums“. Sie verwies 1972 erstmals auf die verheerenden Auswirkungen des wirtschaftlichen Wachstums auf die Umwelt. In den westeuropäischen Gesellschaften machte sich spätestens mit der Ölpreiskrise 1973/74 ein Stimmungsumschwung vom Fortschrittsoptimismus zur Zukunftsangst bemerkbar. Auf wirtschaftlicher Ebene machte der internationale Konkurrenzkampf viele europäische Produktionsstandorte unrentabel. Der industrielle Sektor reagierte mit Standortschließungen und der Umstellung auf automatisierte Fertigung. Diese „Entindustrialisierung“ führte in den westlichen Staaten zum Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Sichere Jobs gab es nur noch für gut Ausgebildete. Ungelernte Arbeitskräfte und Jugendliche waren zunehmend von Arbeitslosigkeit betroffen. In Italien, Frankreich und Großbritannien machten Jugendliche mitunter 40 Prozent aller registrierten Arbeitslosen aus. Chance und Aufbruch Gleichzeitig waren die frühen 1970erJahre in Westeuropa von einem breiten politischen Reformwillen geprägt. Das betraf besonders Investitionen in den Ausbau des Wohlfahrtsstaates. Im Zusammenhang mit neuen Lebensentwürfen wurden die Ideen der 68er-Bewegung in den 1970er-Jahren in der Praxis erprobt. Aus soziokultureller Perspektive beobachtete die zeitgenössische Sozialwissenschaft einen Wertewandel bei der jüngeren Generation. An die Stelle eines kollektiven Pflichtbewusstseins trat das Streben nach individueller Selbstverwirklichung und politischer Partizipation. Demgegenüber sahen konservative Kritikerinnen und Kritiker im veränderten Wertegefüge und den antiautoritären Tendenzen das (vermeintliche) „Ende jeder Ordnung“. In dieser Hinsicht sind die neuen sozialen Bewegungen deutlichster Ausdruck einer Aufbruchsstimmung in den 1970er-Jahren. Neue soziale Bewegungen Grundsätzlich lässt sich das Anliegen der neuen sozialen Bewegungen auf folgende Formel herunterbrechen: Der Mensch soll nicht den Bedürfnissen der Gesellschaft dienen, sondern die Gesellschaft soll die Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Als die drei Hauptwellen gelten gemeinhin die Ökologie-, Friedens- und Frauenbewegungen der 1970er-Jahre. Ihre Akteurinnen und Akteure stammten oft aus den jüngeren und mittleren Altersgruppen. Die soziale und politische Herkunft konnte in den einzelnen Teilbewegungen allerdings sehr unterschiedlich sein. Das passte auch zu der organisatorischen Vielfalt und Dezentralität der Bewegungen. Außerdem grenzten sie sich zur Betonung ihrer Unabhängigkeit bewusst von bestehenden politischen Großparteien und staatlichen Institutionen ab. Zu ihren Aktionsformen zählten Informationstreffen, Lobbying, Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Formen zivilen Ungehorsams und öffentlichkeitswirksame Einzelaktionen. Club of Rome, der: 1968 in Rom gegründete Organisation, die Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen zusammenführt. Der Club setzt sich für eine nachhaltige Entwicklung auf der Erde ein. Ölpreiskrise, die: drastische Erhöhung des Rohölpreises durch die erdölfördernden Länder (OPEC) als Reaktion auf die israelfreundliche Politik der westlichen Industriestaaten während des Jom-Kippur-Kriegs 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 MUSTER
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