Denkmal 7/8 + E-Book

136 Der Historiker Ernst Hanisch hat die Phase von der Währungsreform 1947 bis in die Mitte der 1960er-Jahre als die „langen Fünfzigerjahre“ betitelt. Das „Wirtschaftswunder“ und die beginnende Sozialpartnerschaft lösten die drängendsten Probleme. Gleichzeitig wurde durch die „Opferthese“ Österreichs Mitverantwortung am Nationalsozialismus negiert. Kommunismus. Für seine Bekämpfung rekrutierten westliche Geheimdienste nicht selten ehemalige SS- oder SDMänner. „Persilscheine“ halfen dabei, sich der Verantwortung zu entziehen. Mit der „Minderbelastetenamnestie“ von 1948 wurden schließlich 480 000 ehemalige NS-Anhängerinnen und NS-Anhänger freigesprochen und konnten wieder ungehindert am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Werben um „Ehemalige“ Um die Amnestierten auf ihre Seite zu bringen, waren SPÖ und ÖVP gerne bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Dabei machte ihnen ab 1949 der Verband der Unabhängigen (VdU) Konkurrenz, aus dem 1955 die „Freiheitliche Partei Österreichs“ werden sollte. Diese wurde unter der Führung ehemaliger SS-Mitglieder und nationalsozialistischer Politiker bald zur einzigen Oppositionspartei des Landes sowie zum Sammelbecken für ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten. Gleichzeitig versuchten auch die beiden Großparteien, möglichst viele „Ehemalige“ für sich zu gewinnen. So bemühte sich die SPÖ erfolgreich um nationalsozialistische Akademikerinnen und Akademiker. Sie alle konnten in der Proporzrepublik Karriere machen. Das war auch in der ÖVP möglich: Ein prominentes Beispiel unter vielen war etwa Reinhard Kamitz, der als NSDAP-Mitglied ab 1944 Geschäftsführer der Gauwirtschaftskammer war und nach dem Krieg 1952 Finanzminister und 1960 Nationalbankpräsident werden konnte. Der Opfermythos Das „Zeitalter des Heiratens und Kinderkriegens“ führte zu einem Babyboom. Die Österreicherinnen und Österreicher nutzten den wiedergewonnenen Wohlstand, um die „Schatten der Vergangenheit“ (Aleida Assmann) zu verdrängen. Der Mythos, Österreich sei als „Hitlers erstes Opfer“ an Holocaust und Weltkrieg schuldlos, erleichterte diese Praxis. Bereits in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 hatte sich das offizielle Österreich als Opfer der NS-Aggression dargestellt, was auch von den Alliierten in der „Moskauer Deklaration“ von 1943 so festgehalten worden war. Die „Opferthese“ wurde schnell zum Fundament der österreichischen Politik – bis 1986. Dennoch waren die ersten beiden Nachkriegsjahre von einer ernsthaften und heftig durchgeführten Entnazifizierung geprägt. Zehntausende NS-Anhängerinnen und NS-Anhänger wurden inhaftiert, 7,5 Prozent der Berufstätigen entlassen und die Volksgerichte sprachen 43 Todesurteile aus, von denen 30 vollstreckt wurden. Amnestie und Reintegration In der Bevölkerung nahm das Verständnis für die Härte der Justiz rasch ab. Schon das Nationalsozialistengesetz von 1947 wurde mehrheitlich abgelehnt. Die Verfolgung der „Ehemaligen“ wurde von vielen als Unrecht gesehen, die ehemaligen Täterinnen und Täter als Opfer bemitleidet. Außerdem wurden sie gebraucht: Das Ziel des wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus erforderte Fachkräfte. Darüber hinaus gab es im beginnenden „Kalten Krieg“ einen neuen Feind, den 3.9 Österreichische Perspektive: die Entnazifizierung Nationalsozialistengesetz, das: Als Ergänzung des „Verbotsgesetzes“ von 1945, in dem die NSDAP und die nationalsozialistische Wiederbetätigung verboten worden war, regelte dieses Gesetz die Strafverfolgung ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten in Österreich. Es teilte 520 000 registrierte „Ehemalige“ in „Belastete“ und „Minderbelastete” ein. Persilschein, der: schriftliche Bestätigung, mit der mutmaßliche Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten ihre Unschuld durch Aussagen von Opfern oder ehemaligen Gegnerinnen und Gegnern beweisen konnten Proporz, der: Aufteilung von staatlichen Ämtern nach dem Wähleranteil 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 MUSTER

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