104 Schwieriges Erinnern: in Europa 6.4 Europäische Erinnerungskonflikte Nicht nur Österreich hatte lange Zeit große Schwierigkeiten, sich der eigenen NS-Vergangenheit zu stellen. In weiten Teilen Europas dauerte es lange, bis man sich selbstkritisch mit dieser Zeit beschäftigte. Besonders die Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern und die Mitbeteiligung am Holocaust ist bis heute ein schwieriges Thema in vielen europäischen Ländern. Beispiel 1: __________________________________ Frankreich wurde 1940 von den Nationalsozialisten besetzt. Danach kämpfte die französische Widerstandsbewegung, die „Résistance“, mit aller Kraft gegen die Besatzung. Trotzdem gab es auch eine Kollaboration mit dem NS-Regime. So wurde beispielsweise die Deportation von etwa 75 000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz mit französischer Beteiligung durchgeführt. Offiziell wurde nach dem Krieg nur die Résistance gefeiert, über das Ausmaß der Kollaboration mit dem NS-Regime wurde geschwiegen. Diese wurde erst 1995 vom damaligen französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac eingestanden. Viele Französinnen und Franzosen wollten das jedoch nicht wahrhaben und erinnern sich bis heute lieber an die glorreiche Résistance. Abb. 1: Die Wappen des faschistischen Kroatiens (links, 1941–1945), überhöht vom U der faschistischen Bewegung Ustascha, und des heutigen Kroatiens (rechts, seit 1991). Beispiel 2: __________________________________ Nach der Unabhängigkeit von Jugoslawien 1991 wurde in Kroatien auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges teilweise positiv zurückgeblickt. Kroatien war damals ein unabhängiger Staat, der mit NS-Deutschland zusammenarbeitete. Es gab kroatische Todeslager wie Jasenovac, wo Jüdinnen und Juden, vor allem aber Serbinnen und Serben ermordet wurden. Absichtlich erinnern das heutige kroatische Staatswappen und auch der Name der Währung (die Kuna) an die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Während man die Kämpferinnen und Kämpfer von damals verehrt, wird die Verantwortung für die Kriegsverbrechen auf Hitler und einige hochrangige Führer abgeschoben. folgt Abb. 2: Das Museum „Haus des Terrors“ in Budapest. Foto, 2009. Beispiel 3: __________________________________ Wie in Kroatien wird in vielen Ländern Osteuropas das Ende des Zweiten Weltkrieges nicht als Sieg gegen den Faschismus gesehen, sondern als Beginn der kommunistischen Diktatur. In baltischen Staaten, aber auch in Ungarn oder der Ukraine ging es einem Teil der Bevölkerung während der nationalsozialistischen Besatzung besser als danach (M2). Dieser Teil arbeitete oft mit den Nationalsozialisten zusammen, auch beim Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Nach der deutschen Niederlage kamen in diesen Staaten wieder Kommunisten an die Macht und errichteten Diktaturen. Heute sehen sich viele Menschen in Osteuropa daher als Opfer zweier Diktaturen und blenden die eigene Mittäterschaft aus. Minilexikon selbstkritisch Kollaboration, die = sich selbst nicht nur positiv sehen = Zusammenarbeit MUSTER
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjg5NDY1NA==