Revolutionen, Reformen, Widerstand 3.6 Jüdisches Leben im 18. und 19. Jahrhundert Die jüdische Emanzipation Durch die Französische Revolution verbreiteten sich in ganz Europa die Gedanken der Aufklärung und die Forderung nach Bürgerrechten. Viele Männer des gehobenen Bürgertums in Europa erhielten tatsächlich Bürgerrechte. Auch innerhalb der jüdischen Bevölkerung wurden diese Forderungen immer stärker. So wie in der nichtjüdischen Bevölkerung, wurde die Aufklärung vor allem in den gebildeten und sozial besser gestellten männlichen Kreisen diskutiert. Es entstand die jüdische Aufklärungsbewegung Haskala und mit ihr der Beginn der jüdischen Emanzipation. Die Unterstützer dieser Bewegung strebten die rechtliche und soziale Gleichstellung mit nichtjüdischen Besitzern von Bürgerrechten an. „Emanzipation“ war also auch als Ablösung vom streng religiösen Judentum zu verstehen. Ein wichtiger Wegbereiter der europäischen Haskala war der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786). Rassenlehre: Beginn des rassistischen Antisemitismus Mit der Aufklärung und dem damit verbundenen Glauben an die Naturwissenschaften entwickelte sich die pseudowissenschaftliche Rassenlehre. In ihr wird behauptet, dass man Menschen aufgrund von körperlichen Merkmalen in Gruppen mit ähnlichen Charaktereigenschaften einteilen könne. Durch den Kolonialismus entstand Interesse an den Menschen in den kolonisierten Regionen. Die Rassenlehre sollte die Unterschiede zwischen den „Kolonialherren“ und den Menschen in den kolonisierten Regionen wissenschaftlich belegen. Dabei wurde die „weiße Rasse“ als vernunftbegabt und damit den anderen Rassen überlegen dargestellt. „Schwarze Rassen“ wurden auf der untersten Stufe eingeordnet. Die pseudowissenschaftliche Rassenlehre entwickelte auch den Begriff einer „semitischen Rasse“. Damit wurden Menschen aus arabischen Regionen und auch Jüdinnen und Juden bezeichnet. Daraus entwickelte sich der Begriff „Antisemitismus“. Gleichzeitig mit der jüdischen Emanzipation, mit der sich Jüdinnen und Juden nicht länger auf ihre Religionszugehörigkeit reduzieren lassen wollten und eine soziale und rechtliche Gleichstellung forderten, machte es der rassistische Antisemitismus möglich, Jüdinnen und Juden nun aufgrund ihrer „Rasse“ weiterhin abzuwerten (vgl. dazu auch Kapitel 5, S. 80). 3 Abb. 21: Vergleichende Darstellung männlicher Köpfe und deren Einteilung nach „Rassen“, Kupferstich, London, 1850 die Haskala: hebräisch für „Bildung“ oder „Vernunft“; Bewegung der jüdischen Aufklärung ab dem 18. Jahrhundert die Emanzipation: Befreiung, Ablösung, Gleichstellung pseudowissenschaftlich – Nomen: die Pseudowissenschaft: Eine Lehre, die sich den bloßen Anschein von Wissenschaftlichkeit gibt, ohne es wirklich zu sein; „pseudo“ = griechisch „belügen“, „täuschen“ Im Zuge der Französischen Revolution erhalten Teile der jüdischen Bevölkerung erstmals 1791 alle Bürgerrechte. Sie erhalten Zugang zur Universität und zu Berufen, die ihnen vorher verwehrt waren. Andere Staaten schließen sich an (Kanada, Osmanisches Reich, Niederlande, Preußen, Großbritannien). Man spricht deshalb auch von einem Zeitalter der „Jüdischen Emanzipation“. Eine gewisse Vorreiterrolle spielte dabei das „Toleranzpatent für die Juden in Wien und in Niederösterreich“ von 1782 aus der Regierungszeit des österreichischen Kaisers Joseph II. Judenfeindlichkeit war deshalb nicht aus der Gesellschaft verschwunden. Mit dem rassistischen Antisemitismus entwickelte sich auch ein politischer Antisemitismus (mehr dazu in Kapitel 4, Seite 69). 52 MUSTER
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