6.2 Migration im 19. Jahrhundert – das Beispiel Österreich-Ungarn Nicht erst in unserer Zeit verlassen Menschen ihre Heimat, um anderswo ein besseres Leben für sich zu suchen. Die österreichisch-ungarische Monarchie war insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer großen Auswanderungswelle betroffen. Einer der Auswanderer war Josef Kain. Er arbeitete in dem österreichischen Ort Hallstatt in einer Saline, bevor er nach Texas (USA) auswanderte. 1852 schrieb er in einem Brief an seine Eltern: „[...] Auswandern ist leicht gesagt, aber ausgeführt greift es Herz und Nieren an – Auswandern heißt alles verlassen, alles! – Vater und Mutter, Bruder und Schwester und Freund. Alles verlassen, was man in seiner Jugend und die ganze Lebenszeit lieb gewonnen hat und einer unsicheren Existenz entgegengehen, heißt Auswandern. [...] Ein solcher, welcher politisch und religiös zufrieden, und seine Existenz nur einigermaßen gesichert ist, der bleibe zu Hause, Amerika wird ihm die Beschwerden der Reise und was er im Vaterland verlassen muss nicht ersetzen. [...] Liebste Ältern [sic!] [...] ich muss aufrichtig gestehen, als ich diese Zeilen meines Tagebuches durchlas, habe ich bitterlich geweint – ich schäme mich nicht als Mann dieses zu sagen, auch weiß ich nicht, welche Gefühle dieses hervorbrachten, es ist nicht Reue, den Schritt zur Auswanderung getan zu haben […].“ Brief von Josef Kain, in: Sturmberger, Hans: Die Amerika-Auswanderung aus Oberösterreich zur Zeit des Neo-Absolutismus. Mitteilungen des oberösterreichischen Landesarchivs, Bd. 7 (1961), S. 40–41 So wie Josef Kain verließen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis etwa 1910 etwa 3 Millionen Menschen das Gebiet von Österreich-Ungarn. Die meisten Menschen wanderten in die USA aus. Die USA waren damals das mit Abstand beliebteste Zielland für Auswanderer aus Europa. Das hatte vor allem ökonomische Gründe. Viele Menschen in Österreich-Ungarn lebten in großer Armut. Die Menschen hofften auf einen Arbeitsplatz und ein besseres Einkommen in der immer stärker werdenden Wirtschaft der USA. Ein weiterer Grund für die Emigration in die USA war die Aussicht auf größere persönliche Freiheit. Die Menschen hofften, als freie Bürgerinnen und Bürger in einem demokratischen Land unabhängig von aristokratischen Großgrundbesitzern leben und arbeiten zu können. Migration vom 19. Jahrhundert bis heute 6 die Saline, die Salinen: ein Bergwerk, in dem Salz abgebaut wird mit Abstand: weitaus, mit großem Unterschied zu anderen ökonomisch: wirtschaftlich die Emigration: die Auswanderung die Aussicht, die Aussichten: (hier:) die Möglichkeiten für die Zukunft aristokratisch: einer privilegierten, oftmals adeligen Oberschicht angehörig In den USA gab es seit 1870 zumindest für alle weißen Männer das Recht, den Präsidenten und den Kongress (das amerikanische Parlament) zu wählen. Außerdem herrschte in den USA eine weitgehende Religionsfreiheit, was besonders für Angehörige religiöser Minderheiten aus Europa (z. B. für Protestanten in mehrheitlich katholischen Ländern) anziehend war. Auch die Möglichkeit, in den noch relativ dünn besiedelten Gebieten im Zentrum und dem Westen der USA ein Stück Land zu erwerben und dieses relativ unabhängig von Großgrundbesitzerinnen und Großgrundbesitzern bearbeiten zu können, war für viele Auswanderinnen und Auswanderer eine attraktive Aussicht. 89 Abb. 4: „Nachricht für Auswanderer“. Anzeige für den Verkauf freier Plätze auf einem Auswandererschiff von Antwerpen (Belgien) nach New York (USA). In: Kölnische Zeitung, Nr. 80, 4. April 1849, Beilage Nachricht für Auswanderer Für den 20.d.M. habe ich einen von Antwerpen nach New-York absegelnden sichern gekupferten Dreimaster zu besetzen. Reflectirende Auswanderungslustige belieben sich schnell – in portofreien Briefen – mit mir über die Bedingungen zu benehmen. MUSTER
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