69 Das Zeitalter der Industrialisierung 4 4.4 Politischer Antisemitismus Eine weitere Folge der großen gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert war die Entstehung von Nationalismus in Europa. Bis weit ins 19. Jahrhundert haben sich die Menschen in erster Linie mit ihrer unmittelbaren Umgebung (ihrem Dorf, ihrer Stadt und der Region darum herum), ihrer Religion, ihrer sozialen Schicht und ihrem Beruf sowie der Herrscherin/dem Herrscher, die/der über ihre Region herrschte, identifiziert. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich viele europäische Länder allmählich zu modernen Nationalstaaten. Das war mit der Idee verbunden, dass alle Menschen, die eine bestimmte Sprache, Geschichte, Kultur und Religion teilten, das Volk einer Nation und auch eines eigenen Staates bilden. Oft war damit auch die Vorstellung verbunden, dass die eigene Nation „besser“ sei als andere. Angehörige anderer Nationen wurden verstärkt als Feinde betrachtet. Diese Einstellung nennt man Nationalismus. Eng verbunden mit dem aufkommenden Nationalismus in Europa war die Entstehung eines politischen Antisemitismus und Rassismus. Antisemitismus gab es in Europa schon seit Jahrhunderten (mehr dazu in Kapitel 2, Seite 52). Auch Rassismus war in Europa seit den Entdeckungsfahrten und der darauffolgenden Kolonialisierung entfernter Regionen weit verbreitet (mehr dazu in Kapitel 5). Infolge der verstärkten Politisierung der europäischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert erkannten manche Politiker, dass sie sehr viel Unterstützung bekamen, wenn sie bewusst den Hass auf jüdische Menschen oder Menschen anderer Herkunft verstärkten. Zum Beispiel behaupteten manche Politiker, dass Menschen mit jüdischem familiären Hintergrund schuld daran seien, dass der Großteil der Bevölkerung sehr arm war. Ein bedeutsames Beispiel eines solchen Politikers war Karl Lueger. Er war Bürgermeister von Wien von 1895 bis 1910. Er gewann sehr viel Unterstützung unter anderem dadurch, dass er den jüdischen Menschen in Wien die Schuld an verschiedenen Problemen gab. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind der Meinung, dass Karl Lueger durch seinen Umgang mit der jüdischen Bevölkerung sehr stark dazu beigetragen hat, Antisemitismus in Wien und Österreich akzeptabel zu machen. Auch Adolf Hitler lebte in der Amtszeit Karl Luegers in Wien. Verschiedene Historikerinnen und Historiker gehen davon aus, dass Adolf Hitler in dieser Zeit „gelernt“ hat, wie man durch das Schüren von Hass gegen Jüdinnen und Juden Macht erlangen kann. 26. Arbeite die Merkmale des politischen Antisemitismus heraus. Begründe, warum es sich beim Zitat von Karl Lueger (Randspalte) um politischen Antisemitismus handelt. 27. Am Ring in Wien steht seit 1926 ein Denkmal für Karl Lueger, das in den letzten Jahren immer wieder für Diskussionen sorgte. a) Erkläre mögliche Gründe, warum manche Menschen heute gegen dieses Denkmal eingestellt sind. b) Interpretiere, was durch die Umgestaltung des Denkmals (Abb. 14) ausgesagt werden soll. sich identifizieren: sich aufgrund von Gemeinsamkeiten als Teil einer Gruppe verstehen die Politisierung: die Betrachtung eines Lebensbereiches unter politischen Gesichtspunkten „Der Einfluß auf die Massen ist bei uns in den Händen der Juden, der größte Teil der Presse ist in ihren Händen, der weitaus größte Teil des Kapitals und speziell des Großkapitals ist in Judenhänden und die Juden üben hier einen Terrorismus aus, wie er ärger nicht gedacht werden kann. Es handelt sich uns darum, in Österreich vor allem um die Befreiung des christlichen Volkes aus der Vorherrschaft des Judentums. […] Aller Zwist, auch der bei uns in Österreich herrscht, ist darum durch die Juden entfacht, alle Anfeindungen unserer Partei rühren daher, weil wir der Herrschaft der Juden endlich einmal zu Leibe gerückt sind.“ Auszug aus einer Rede von Karl Lueger am 20. Juli 1899 vor dem christlich-sozialen Arbeiterverein in Wien (https://austria-forum.org/ af/AustriaWiki/Karl_Lueger) Abb. 14: Entwurf zur Umgestaltung des Denkmals für Karl Lueger (Künstler Klemens Wihlidal); der Entwurf „Schieflage (Karl Lueger 3,5°)“ sieht vor, dass das gesamte Denkmal um 3,5 Grad nach rechts gekippt wird. MUSTER
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