Lebensformen im Mittelalter 4 68 4.9 Judentum und Christentum Ursprünge und Veränderungen Die christliche Religion hat ihre Ursprünge im Judentum. In der Anfangszeit war es schwer, die beiden Religionen voneinander zu unterscheiden. Es wurden zum Beispiel dieselben Schriften studiert oder dieselben Gebetshäuser genutzt. Etwa ab dem Jahr 130 sahen viele christliche Gelehrte das Judentum immer stärker als Konkurrenz an. Um mehr neue Anhängerinnen und Anhänger zu gewinnen, erklärten sie das Judentum zu einem „falschen“ Glauben. Sie behaupteten, dass das Christentum das Judentum ablöse. Dazu wurden auch Lügen verbreitet. Kaiser Konstantin bekannte sich 337 zum Christentum. Die Herrschenden waren von da an interessiert, nach außen deutlich zu machen, dass ihre Religion, also das Christentum, wertvoller war als alle anderen Religionen. Immer wieder gab es Versuche, Jüdinnen und Juden von bestimmten Berufsgruppen auszuschließen, etwa jener der Anwälte, Beamte oder Soldaten. Sie durften auch keine neuen Synagogen bauen. Solche Maßnahmen erleichterten es den Menschen, sich gegen eine Zugehörigkeit zum Judentum und für das Christentum zu entscheiden. Jüdinnen und Juden waren nicht gleichgestellt mit der christlichen Bevölkerung. Zusammenleben Das Zusammenleben zwischen Menschen verschiedener Glaubensrichtungen verlief dennoch in vielen Bereichen und über lange Perioden des Mittelalters gut. Besonders im Bereich der Naturwissenschaften spielte die Religionszugehörigkeite der Beteiligten keine große Rolle, hier forschten Juden, Christen und Muslime gemeinsam. Auch im beruflichen Leben wurde immer wieder nach Möglichkeiten gesucht, wie man trotz unterschiedlicher religiöser Vorschriften gut zusammenleben konnte. Ein Beispiel dafür ist der Bericht des Rabbiners Israel bar Petachja, genannt Isserlein von Wiener Neustadt (1390–1460). Als ein christlicher Lieferant Weinfässer in ein jüdischen Haus an einem jüdischen Feiertag liefern möchte, wird gemeinsam eine Lösung gefunden: Die Textquelle zeigt zwei Seiten des jüdisch-christlichen Zusammenlebens auf: Obwohl es ein Miteinander von christlicher und jüdischer Bevölkerung beruflich und privat gab, waren Jüdinnen und Juden immer auf der Hut vor Anfeindungen und Gewalt. Sie hielten aus diesem Grund beispielsweise auch ihre Feiertage geheim. Diese Vorsicht war nicht ohne Grund, es kam immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen. „Einmal geschah es, dass ein Nichtjude in einem Wagen an einem Feiertag Wein brachte und sagte: Entweder ihr räumt den Wagen ab oder ihr ersetzt mir alle Kosten. Und Isserlein erlaubte, dem Nichtjuden zu sagen, dass heute ein Feiertag sei und er sollte machen, wie es ihm gut schiene, nur sollte er auf den Wein aufpassen. Da sagte [der Nichtjude]: Gib mir den Kellerschlüssel, und er räumte selbst den Wein in den Keller.“ Josef bar Mosche, Leket Joscher. Hg. von Jakob Freimann. Berlin 1903, repr. Jerusalem 1964, Teil 1, S. 101 f., in: Martha Keil, Nähe und Abgrenzung. Die mittelalterliche Stadt als Raum der Begegnung. Juden in Mitteleuropa, 2005 Religiöse Vorschriften verboten es jüdischen Menschen, an Feiertagen zu arbeiten; an diesen Tagen waren sie daher besonders wehrlos. die Konkurrenz: Gegnerinnen und Gegner in einem Wettstreit der Rabbiner, die Rabbiner; die Rabbinerin, die Rabbinerinnen: ein jüdischer Gelehrter auf der Hut sein: sich vor etwas in Acht nehmen, das jederzeit eintreten kann der Kreuzzug, die Kreuzzüge: ein Krieg gegen angebliche Feinde des Christentums die heilige Mission: aus Sicht der Missionare die Bekehrung Andersgläubiger im Auftrag Gottes Abb. 30: Diskussion von Wissenschaftern aus unterschiedlichen Glaubensrichtungen, Buchmalerei, 1370 MUSTER
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