mehr zu stimmen. Vorher war ich ziemlich normal. Nur meine Schwester fand das nicht, aber das ist besonders normal. Welche Schwestern finden einen schon normal, vor allem, wenn sie es selbst überhaupt nicht sind? Dabei fühle ich mich ja nach wie vor normal, bloß alles andere ist es nicht. Trotzdem glaube ich eher meinem Opa. Normal ist der aber auch nicht. Ich frage mich, wie sie es geschafft haben, von hier zu entkommen. Ich denke, sie müssen irgendeinen Geheimgang genommen haben. Und obwohl ich seit letztem Donnerstag mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, dass sie wieder auf Tschu sind, überprüfe ich nach wie vor jeden Tag alle Gullys3 in unserer Straße. Aber auch die in den anderen Straßen, wenn ich kann. Nicht nur die Gullys müssen überprüft werden, sondern alle Öffnungen, die in unterirdische Gänge führen könnten, wie zum Beispiel die Unterflurhydranten4, obwohl sie meistens geschlossen sind. Manche jedoch wackeln und lassen sich leicht beiseiteschieben. Jemand muss also ab und zu an den Unterflurhydranten rütteln, um festzustellen, ob sie verschlossen sind oder ob Menschen oder andere Wesen von oben hinein- und von unten heraufkommen können. Dieser Jemand bin ich. Mit meinem Telefon dokumentiere ich alle Hydranten bei uns in der Straße. 1 Tschu: ein imaginärer Ort, an dem der Erzähler (Richard) mit der Erinnerung an seine Mutter und Schwester in Verbindung bleibt 2 Asperger: eine Form des Autismus-Spektrums. Menschen mit Asperger-Syndrom verarbeiten Sinnesreize anders und finden Kommunikation und soziale Interaktionen oft schwierig. 3 der Gully: ein mit einem Gitter abgedeckter Schacht in der Straße, der in die Kanalisation führt 4 der Unterflurhydrant: ein unter der Erde verborgener Feuerhydrant, der geöffnet wird, wenn Wasser für Löscharbeiten gebraucht wird Quelle: Hagena, Katharina: Dritter sein. In: Das Geräusch des Lichts. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018, S. 122–198, hier S. 122–125 85 90 95 100 105 110 II Übungsteil 220 MUSTER
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