Abschlussaufgabe: eine Textinterpretation schreiben Dritter sein Dass meine Schwester vom Planeten Tschu1 stammt, kann jeder sehen, der ihre Hände genau untersucht. Legt sie ihre Zeigefinger so nebeneinander, dass sich die langen, unteren Abschnitte ihrer dünnen weißen Finger berühren, so streben die beiden oberen Fingerglieder wie V auseinander. Wenn man die beiden aneinandergelegten Zeigefinger meiner Schwester im Ganzen betrachtet, gleichen sie vielleicht doch eher einem Ypsilon oder, wie meine Schwester behauptet einer Antenne. Einer Wünschelrute, findet meine Mutter. Meine Mutter hat die gleichen Finger wie meine Schwester, nur viel größer, und ist daher auch eine Tschu. Inzwischen sind die beiden wieder zurück auf ihrem Planeten. Dass sie von hier fortgingen, ist jetzt schon ein ganzes Jahr her, aber ich bin immer noch hier. Ich glaube nicht, dass sie mich nachholen werden, denn meine Schwester hat gesagt, ich könnte dort nicht atmen. Du könntest dort nicht atmen, R. D. Du musst schon ein Tschu sein, um dort leben zu können. Sie machte eine weiße Kaugummiblase und ließ sie platzen, sodass winzige weiße Kaugummiwürmchen an ihren Lippen hingen. Meine Schwester nennt mich nie Richard, sondern immer nur R. D., das sind die Anfangsbuchstaben meines Namens, Richard Deutsch, eigentlich Nikolaus Richard Deutsch, aber es ist nicht hilfreich, die Initialen NRD zu haben, wenn man sowieso schon unter Nerdverdacht steht. Außerdem: wer [sic!] möchte heißen wie ein Typ in einem roten Samtanzug? Wenn ich lerne, Kaugummiblasen zu machen, kann ich dann auch dort leben? Nein, da ist ja kein Sauerstoff drin, sagte meine Schwester verächtlich, ihr aber braucht Sauerstoff. Sie ließ das Kaugummi erneut platzen. Ich weiß, dass die Kaugummiblasen Bestandteil ihrer Tschu-Atmung sind, manche Frösche oder Kröten machen etwas Ähnliches. Meine Mutter kaut allerdings nie Kaugummi, aber sie ist ja auch schon ausgewachsen und beherrscht die Tschu-Atmung ohne Hilfsmittel. Ich mag eigentlich kein Kaugummi, oder jedenfalls nur diese langen, flachen Streifen, die in gezacktes Silberpapier eingewickelt sind und auf die ein Gittermuster geritzt ist. Aber damit kann man keine Blasen machen. Das, mit dem man Blasen machen kann, schmeckt mir nicht. Ich kaufe es trotzdem manchmal und übe, man kann nie wissen. Ich mag Gittermuster. Ich mag sie sehr. Die Leute finden das sonderbar. Etwas stimmt nicht mit mir. Das stimmt vielleicht. Manchmal merke ich das auch, aber für mich ist es normal, anders zu sein. An mir selbst kann ich gar nichts Sonderbares feststellen, im Gegenteil, ich finde die anderen Leute komisch. Doch je komischer sich die Leute, meine Klassenkameraden und Lehrerinnen, die Verkäufer und Busfahrerinnen benehmen, desto mehr scheint nicht mit mir zu stimmen. Am schlimmsten ist es, wenn sie alle versuchen, ganz normal zu mir zu sein. Dann weiß ich, dass gerade etwas überhaupt nicht stimmt, und versuche, möglichst nicht das zu tun, was ich normal finde, damit alles wieder einigermaßen normal wird. Unser Nachbar hat meinem Vater gesagt, ich sei ein Aspergerkind2, mein Opa hingegen sagt, ich sei ein Hamburgerjung. Neulich habe ich Aspergerkind gegoogelt, aber ich glaube nicht, dass unser Nachbar recht hat. Erst seitdem meine Mutter und meine Schwester zurück auf den Planeten Tschu gegangen sind, hat alles angefangen, nicht 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Lesen Sie den Beginn der Erzählung „Dritter sein“ von Katharina Hagena und verfassen Sie eine Textinterpretation. Info: Die Erzählung ist ein Auszug aus dem Roman „Das Geräusch des Lichts“. Sie beschreibt die Suche eines autistischen Jungen nach seiner Mutter und seiner Schwester, die beide ums Leben gekommen sind. Er gelangt gemeinsam mit seinem Vater bis nach Kanada, in die Wälder von Yellow Knife. Verfassen Sie nun Ihre Textinterpretation und beachten Sie dabei Folgendes: •• Beschreiben Sie den Erzähler und seine Gedanken. •• Analysieren Sie die sprachliche Gestaltung in Zusammenhang mit der Erzählperspektive. •• Deuten Sie den Text unter dem Gesichtspunkt des Andersseins. Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen. 219 11 Texte interpretieren MUSTER
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