Denkmal 5/6 + E-Book

270 Die Aufklärung hatte die Gleichstellung aller zum Ideal. Dafür, argumentierte sie, müsse Religion weniger Stellenwert bekommen und modernisiert werden. Der Verstand sollte Quelle für Entscheidungen sein, nicht primär die Religion. Das führte im 19. Jahrhundert zu einer Veränderung des Zusammenlebens von Jüdinnen und Juden und Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden. Die Aufklärung – Haskalah Die Haskalah, die jüdische Aufklärung, hatte zum Ziel, das Judentum weniger verworren und moderner zu machen. So sollte der nicht-jüdischen Gesellschaft offener begegnet werden können. Religiöse Schriften wurden nicht mehr in Hebräisch, sondern in den Landessprachen gelesen. Neben der religiösen Ausbildung sollte der weltlichen die gleiche Stellung zukommen. Alte religiöse Praktiken (z. B. Beschneidungspraktiken, sehr frühe Verheiratungen), die bei Andersgläubigen für Kritik sorgten, und Jüdinnen und Juden das Zusammenleben mit ihnen verkomplizierten, sollten wissenschaftlich erneuert werden. Religion sollte der Moderne und der Gleichberechtigung von Jüdinnen und Juden nicht länger im Wege stehen. Emanzipation Auch die nicht-jüdische Gesellschaft diskutierte, von den Idealen der Aufklärung getrieben, wie alle Bürgerinnen und Bürger „nützlich“ gemacht werden konnten. Das war vor allem für den Staat von Bedeutung, um etwa Steuereinnahmen von allen beziehen zu können. Derartige Überlegungen führten schließlich zur Emanzipation, also zur rechtlichen Gleichstellung der Jüdinnen und Juden. Allerdings passierte die zu unterschiedlichen Zeiten: Während die Jüdinnen und Juden in Frankreich bereits mit der Französischen Revolution emanzipiert wurden, erhielten sie in Österreich-Ungarn erst 1867 die volle rechtliche Gleichstellung (erste emanzipatorische Tendenzen in Josephs II. Toleranzpatenten 1792, s. 5.23) und im Russischen Reich überhaupt erst mit der Revolution 1917 (s. 6.11). Neue Kontaktzonen Im 19. Jh. wurde Religion zwar nicht aufgegeben, hatte aber nicht mehr eine primäre Stellung im Alltag. Es ergaben sich viele neue Kontaktzonen von Jüdinnen und Juden mit Nicht-Jüdinnen und NichtJuden. Die Salons waren eine davon: Adelige und Bürgerliche trafen sich in ihren Palais, um Kunst, Literatur und Wissenschaft zu diskutieren. Vor allem Jüdinnen waren bekannte Gastgeberinnen. In Wien war der Salon der Fanny von Arnstein (M 1) (ihr wird die Verbreitung der Tradition des Weihnachtsbaumes in Österreich zugeschrieben, M 3) ein zentraler Einflussbereich. In Berlin zählte die „Dachstube“ von Rahel Varnhagen von Ense, wo bald die Brüder Humboldt, Friedrich Schlegel und andere Gesellschaftsgrößen verkehrten, und der Salon des Ehepaars Henriette und Marcus Herz zu den wichtigsten Treffpunkten der Gesellschaft. Kontakte im Alltag Gegen Ende des 19. Jhs wurden auch Bereiche der Freizeit wie Kinos, kleine Theater (Varietés) und Freizeitparks (z. B. der Wiener Prater), wichtige Bereiche täglicher Interaktion zwischen Jüdinnen und Juden und Andersgläubigen. Sie lebten aber nicht nur in öffentlichen Räumen, sondern auch in privaten zusammen: Viele jüdische Haushalte hatten nicht-jüdische Hausangestellte und umgekehrt. Ebenso teilten sich in der ärmeren Bevölkerung jüdische und nichtjüdische Bettgeherinnen und Bettgeher ihre Schlafmöglichkeit. M 1: Baroness Franziska (Fanny) von Arnstein (1758–1818), Portrait, anonym, undat. Jüdisches-Nichtjüdisches Zusammenleben 6.10 5 10 15 20 25 30 35 65 70 40 45 50 55 60 MUSTER

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjg5NDY1NA==