116 In der wissenschaftlichen Community besteht heute Konsens darüber, dass die Jahrzehnte um 1500 eine Zeitenwende darstellen. Während früher fast nur mit der politischen Geschichte argumentiert wurde, benennen heutige Historikerinnen und Historiker viele technologische, kulturelle, aber auch religiöse und wirtschaftliche Gründe dafür, warum mit 1500 eine neue Epoche begann. Zeitenwende – eine neue Zeit? 4.1 M 1: Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen unter Sultan Mehmed II. 1453. Das türkische Heerlager vor Zäsur großer Einschnitt; markanter Wendepunkt Antike Schriften Das Wissen der Antike war in unzähligen Schriftwerken festgehalten. Durch den Fall Westroms im 5. Jh. und die zahlreichen Kriegszüge in diesen Gebieten gingen viele dieser Erkenntnisse allerdings verloren – da Bücher, Manuskripte oder Bibliotheken zerstört wurden. Im Oströmischen Reich und später in den islamischen Reichen blieb das Wissen jedoch oftmals erhalten. Periodisierung der Neuzeit Die heute noch weitverbreitete Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit beruht auf der Einteilung von Christoph Cellarius. Er begründete seine Gliederung damit, dass es um 1500 viele Brüche mit der vorangegangenen Zeit gab. So empfanden viele damals lebende Menschen die Einnahme der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul) durch muslimische Osmanen (M 1) im Jahr 1453 als eine schwerwiegende Zäsur. Aber auch die beginnende Reformation und technische Innovationen, wie zum Beispiel die Verbesserung des Buchdrucks, hatten weitreichende und langfristige Folgen für Europa und die Welt. Entdeckungen wie der Seeweg nach Indien und die Eroberungen weiter Teile Amerikas und der daraus resultierende Zugang zu neuen Lebensmitteln, wie Kartoffeln oder Mais, änderten die Lebensweisen der Menschen erheblich. Abseits politischer und wirtschaftlicher Geschichte änderte sich um 1500 vor allem eines: Ideen! Neue (alte) Ideen Seit der Zeit der Kreuzzüge kamen Menschen aus dem Okzident (Westen) vermehrt in Kontakt mit der arabischen Welt. Dort standen die weltlichen und vor allem geistlichen Herrscher Bildung großteils aufgeschlossener gegenüber als im mittelalterlichen Europa. Die West-Ost-Beziehungen waren nicht nur kriegerischer, sondern oft friedlicher Natur. Durch vermehrten Handel und Kontakt mit dem Orient (Osten) kamen antike Schriften und die darin enthaltenen Vorstellungen und Werte nach Europa. Verstärkt wurde dieser Vorgang durch die Flucht zahlreicher griechischer Gelehrter aus Konstantinopel nach Europa. Die meisten von ihnen migrierten nach Italien (s. 4.2). Kritik an der Periodisierung Die Periodisierung verschiedener Epochen verlangt zwangläufig die Konzentration auf Umbrüche und Zäsuren. Allerdings besitzen Epochen keine einfach festzustellenden Anfangs- und Endpunkte. Die Kontinuitäten, die zum Beispiel in der Verwaltung, der Kunst oder der Alltagskultur auftreten, werden häufig ignoriert. Kritikerinnen und Kritiker argumentieren, dass starre Periodisierungen häufig zu einem „Schwarz-Weiß“-Verständnis von Geschichte führen. Ein eurozentrisches Konzept? Im Laufe dieses Kapitels werden verschiedene Prozesse behandelt, die als Trennlinien zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit angesehen werden. Allerdings ist das Konzept der Einteilung in Antike, Mittelalter und Neuzeit, als rein europäisches Konzept, nicht unumstritten. Während einige der zu thematisierenden Prozesse, wie die europäische Expansion, tatsächlich globale Ausmaße annahmen, beschränkten sich die Auswirkungen anderer Neuerungen ausschließlich auf Europa. Der Humanismus als ideen- und die Renaissance als kunstgeschichtliche Revolution waren zweifellos essenzielle Meilensteine der europäischen Philosophie, Kunst und Naturwissenschaften. Allerdings waren sie für weite Teile Asiens und Afrikas belanglos. Vor allem seit dem 20. Jh. erntete diese Periodisierung deshalb Kritik für ihren Eurozentrismus. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 MUSTER
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