91 Hintergründe und Ursachen Eine wichtige Voraussetzung für die Kreuzzüge war die Politisierung der Papstkirche. Die Päpste beanspruchten ein weltweit gültiges weltliches Herrschaftsrecht: Sie riefen zum Krieg auf, bereiteten die Kriege vor und beanspruchten Leitungskompetenzen. Ein weiterer Grund war die enge Verflechtung von Religion und Politik. Die Kreuzzüge wurden als „heilige Kriege“ durch die Kirche gerechtfertigt, das Töten von Andersgläubigen wurde erlaubt. Als Werk der Buße waren die Kreuzzüge eingebettet in die religiöse Praxis, als Kriege sollten sie die Rückeroberung des „christlichen Besitzes“ und die Verteidigung gegen echte und vermeintliche Glaubensfeinde ermöglichen. Dass die Teilnahme den Nachlass der Sündenstrafen bzw. die Vergebung der Sünden erwirken würde, motivierte Tausende, an den „heiligen Kriegen“ teilzunehmen. Ein neues Leitbild: der „miles christianus“ Das neue Konzept des „heiligen Kriegs“ der Christenheit führte zu einem vereinheitlichten Leitbild des „miles christianus“, des christlichen Ritters, zu einem gemeinsamen Ritterethos, zu einer gleichartigen Ritterkultur und zu einem Zusammengehörigkeitsbewusstsein der christlichen Ritterschaft in der gesamten Westkirche. Die Kreuzzüge aus islamischer Sicht Die islamische Geschichtsschreibung sah die Kreuzzüge bis ins 19. Jh. nicht als religiöse Auseinandersetzungen, sondern als reine Beute- und Eroberungskriege an. Sie wurden als „Frankenkriege“ bezeichnet. Erst mit dem Erstarken muslimischer Unabhängigkeitsbewegungen im Kampf gegen den europäischen Imperialismus und Kolonialismus betrachtete man sie aus einem geänderten Blickwinkel: Man übernahm die ursprünglich westliche Deutung der Kreuzzüge als religiöse Kriege – und verwendet(e) sie als Beispiel dafür, dass das christliche Europa bereits im Mittelalter die islamischen Länder angegriffen und bekriegt hat. Aufgaben 1 Textquellenanalyse: Arbeiten Sie heraus, was Papst Urban II. fordert, was er verspricht und welche Gründe für eine Teilnahme an den Kreuzzügen er nennt. (HM) 2 Diskutieren Sie zu zweit, ob die Darstellung der „Kreuzzüge“ in einem syrischen oder türkischen Geschichtebuch gleich ausfallen würde wie in GO! 5/6. (PU) 3 Informieren Sie sich, welche zwei Gebäude heute auf dem ,,Tempelberg“ (Haram al Scharif) stehen und warum Jerusalem Juden, Christen und Muslimen heilig ist. (HO) Bericht eines anonymen Chronisten über den ersten Kreuzzug (1099) Ausschnitte aus dem Reisetagebuch eines Ritters über die Ereignisse des 1. Kreuzzuges. Im Juni 1099 kamen die Kreuzfahrer drei Jahre nach ihrem Aufbruch vor Jerusalem an. […] Unsere edlen Herren sannen nun auf Mittel, die Stadt mithilfe von Maschinen (= Belagerungsmaschinen) anzugreifen, um in sie eindringen und das Grab unseres Erlösers verehren zu können. Man baute zwei hölzerne Burgen und nicht wenig andere Maschinen. […] Am Mittwoch und Donnerstag griffen wir die Stadt von allen Seiten stark an. Aber bevor wir sie im Sturm nahmen, ließen die Bischöfe und Priester durch ihre Predigten und Ermahnungen den Beschluss fassen, dass man zu Ehren Gottes einen Bittgang um die Wälle von Jerusalem machen wolle und dass er begleitet würde von Gebeten, Almosen und Fasten. […] In diesem Augenblick erkletterte einer unserer Ritter mit Namen Lietaud die Stadtmauer. Bald […] flohen alle Verteidiger von den Mauern durch die Stadt, und die Unsrigen folgten ihnen und trieben sie vor sich her, sie tötend und niedersäbelnd, bis zum Tempel Salomons, wo es ein solches Blutbad gab, dass die Unsrigen bis zu den Knöcheln im Blut wateten. […] In die Stadt eingedrungen, verfolgten unsere Pilger die Sarazenen bis zum Tempel des Salomo, wo sie sich gesammelt hatten und wo sie während des ganzen Tages den Unsrigen den wütendsten Kampf lieferten, sodass der ganze Tempel von ihrem Blut überrieselt war. Nachdem die Unsrigen die Heiden endlich zu Boden geschlagen hatten, ergriffen sie im Tempel eine große Zahl Männer und Frauen und töteten oder ließen leben, wie es ihnen gut schien. Bald durcheilten die Kreuzfahrer die ganze Stadt und rafften Gold, Silber, Pferde und Maulesel an sich; sie plünderten die Häuser, die mit Reichtümern überfüllt waren. […] Am folgenden Tag erkletterten die Unsrigen das Dach des Tempels, griffen die Sarazenen, Männer und Frauen, an, zogen das Schwert und schlugen ihnen die Köpfe ab. Einige stürzten sich von der Höhe des Tempels hinab. […] Man befahl auch, alle toten Sarazenen aus der Stadt zu werfen, wegen des unsäglichen Gestanks, denn die ganze Stadt war völlig mit ihren Leichnamen angefüllt. […] Niemand hat jemals von einem ähnlichen Blutbad unter dem heidnischen Volk gehört oder es gesehen. Pernoud (Hg.), Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten, S. 100 ff. Religion und Politik MUSTER
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