44 Kulturkontakte im mediterranen Raum Jeweils danach wurde intensiv besprochen, was und wer „griechisch“ bzw. „römisch“ ist. Gibt es Parallelen zwischen den frühen Gesellschaftsordnungen in den griechischen Poleis und Rom? Schon seit der Antike glaubte man, dass sich menschliche Gesellschaften nach einem bestimmten, tatsächlich aber nur konstruierten Ablauf entwickeln. Diese Vorstellungen finden sich auch bei WissenschaftlerInnen seit dem 19. Jh. Zuerst soll es ein Königtum gegeben haben, dann einen Adelsstaat und schließlich eine Oligarchie oder Demokratie. Nach diesem Modell wurde die frühe Geschichte von Griechenland und Rom schon in der Antike konstruiert – ohne konkretes Wissen über diese Zeit. Demgegenüber zeigen die archäologischen Forschungen (bes. die Siedlungsarchäologie) und detaillierte Analysen der frühesten schriftlichen Quellen, dass ein anderes Modell mit den historischen Gegebenheiten viel besser übereinstimmt. Auf der Basis der Analysen von vielen Gesellschaften ohne staatliche Institutionen wurden in der Ethnologie Typen von Gesellschaften erarbeitet, die nach der Führungsposition Head Men, Big Men oder Chiefs bezeichnet werden. Der in sich weiter zu untergliedernde Typ von miteinander konkurrierenden Big Men hat sich als die beste Analogie erwiesen, um die Verhältnisse in den sich in Griechenland der Archaik bis ins 6. Jh. und in Mittelitalien bis ins 5. Jh. herausbildenden Siedlungen zu beschreiben. Die weitere Entwicklung jedoch unterschied sich in Griechenland und Rom. In Griechenland – von äußerer Bedrohung frei – formierte sich eine Vielzahl von selbstständigen Siedlungen mit unterschiedlicher interner Organisation aus. In Latium und dann in Mittelitalien wurde Rom durch anhaltende Kriege zum einzigen Zentrum, in dem sich die Big Men in eine herrschende Aristokratie verwandelt hatten. Warum wird Griechenland als Wiege der europäischen Kultur betrachtet? Man könnte antworten: weil der Bezug zur Antike – auf zweierlei Weise – Identität stiftete. Die erste Form des Bezugs besteht in der bewussten, aber trotzdem falschen Anbindung an das antike Griechenland. Das Vorbild dafür findet sich schon in der römischen Kaiserzeit, als der aus Troia geflohene Aeneas zum Gründer oder zumindest Ahnen Roms gemacht wurde. Die so eröffnete Linie von Griechenland über Rom wirkte über die Spätantike ins Mittelalter und die frühe Neuzeit, als sich Herrschergeschlechter (z. B. Valois, Habsburger) oder einzelne Städte in Europa (z. B. Xanten, Bonn, Augsburg) eine besondere Vergangenheit geben wollten und sich zu Nachfahren der Troianer erklärten. In einer Weiterführung dieser Linie hielten sich im 19. Jh. besonders die Deutschen für die Nachfahren der Griechen und noch heute wird Homer für den ersten Dichter Europas gehalten. Die zweite von Griechenland nach Europa führende Linie benötigt keine solchen Konstruktionen. Es sind die Reflexionen, wie menschliche Gemeinwesen am besten gestaltet sein sollen, philosophische Überlegungen über die Entstehung des Kosmos, Fragen der logischen Argumentation, das Nachdenken über Ethik und Moral, zudem naturwissenschaftliche Erkenntnisse, es sind Kunst und Literatur, die in den griechischen Stadtstaaten entwickelt bzw. erworben, an den Höfen der hellenistischen Herrscher weitergedacht und dann in Rom aufgenommen wurden. Dieser grundlegende Fundus an Erkenntnissen und Wissen wurde über die Spätantike und Byzanz weitervermittelt, zur Zeit der Renaissance begierig aufgegriffen; er hat so direkten Einfluss auf das Denken im Europa der Neuzeit und der Moderne genommen – und dann natürlich weit über Europa hinaus. Aber natürlich gibt es keine ethnische Verbindung zwischen Griechen und Europäern. Was hat Sie persönlich die jahrzehntelange Beschäftigung mit den frühen Gesellschaften gelehrt? Das Faszinierende an Geschichte ist, dass wir in der Vergangenheit wie in einem Labor eine Unzahl an Versuchen finden, menschliches Zusammenleben zu gestalten. Die ‚Abteilung Antike‘ in diesem Labor „enthält“ viele Gesellschaften, die gezwungen waren, Lösungen für das Zusammenleben einer steigenden Zahl an Menschen zu finden. Wie die für den Aufbau dieser immer größer werdenden Gesellschaften bzw. Staaten bis dahin geltenden Verhaltensformen und Regeln verändert werden (mussten), verhilft zu einem besseren Verständnis auch für gegenwärtige gesellschaftliche und politische Institutionen und Situationen. Dass das Mittel dazu die Analyse davon liefert, wie sich Menschen auch gegen Widerstände bemühen, die verschiedensten Probleme zu lösen, und nicht der Blick auf Institutionen und „Verfassungen“ (auch ein Erbe des 19. Jh.) – das und dass es jede längerfristig tragfähige Lösung das Ergebnis von Aushandlungsprozessen ist, ist wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit frühen (und anderen) Gesellschaften. Aufgaben 1 Unterstreichen Sie zuerst alleine fünf wichtige Aussagen, die im Interview gemacht werden und über die Sie mit einem Mitschüler oder einer Mitschülerin diskutieren möchten. Tauschen Sie sich über die gekennzeichneten Passagen aus. (HM) 2 Erläutern Sie, was Univ.- Prof. Ulf unter „Aushandlungsprozessen“ versteht. (PU) 3 Univ.-Prof. Ulf spricht über die „hellenische Identität“. Informieren Sie sich auf S. 38 darüber, ab wann man von „griechischer“ Identität sprechen kann. Ermitteln Sie die Ursachen zur Ausbildung einer hellenischen Identität. (HM) MUSTER
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