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43 Expertengespräch: Alte Geschichte Warum gibt es so viel Neues in der „Alten Geschichte“? Es gibt tatsächlich viel ‚Neues‘ in der Alten Geschichte – jedoch nicht mehr als in den Geschichtswissenschaften insgesamt. Dass die neuen Sichtweisen besonders auffallen, liegt daran, dass die Quellen aus der Zeit der Antike im Vergleich zu späteren Zeiten nicht so zahlreich, umfangreich und häufig nur in Bruchstücken (fragmentarisch) erhalten sind. Deswegen sind auch die von der Archäologie erforschten „gegenständlichen“ Quellen für die Erforschung der Antike wichtiger als für spätere Zeiten. Da oft nur eine einzige Quelle als Zeugnis für ein Ereignis übrig geblieben ist, muss man ganz genau kontrollieren, welche in der Quelle enthaltenen Informationen glaubwürdig sind und welche nicht. Historiker und Historikerinnen, die sich mit der Antike beschäftigen, benützen für solche Kontrollen noch mehr als z. B. in der Erforschung des Frühmittelalters Vergleiche mit Gesellschaften, mit denen sich die Ethnologie („Völkerkunde“) beschäftigt, Ergebnisse aus der Sozialpsychologie („Wie bilden sich und funktionieren Gruppen?“), die Erforschung, wie und warum Erzählungen über die Vergangenheit („Mythen“) mündlich weitergegeben werden, oder Untersuchungen, wie sich Menschen gegenüber Unbekanntem bzw. Fremdem verhalten („Kulturkontaktforschung“). So ergeben sich neue Perspektiven auf das Zusammenleben der Menschen in der Antike. Z. B. hat man die antiken Erzählungen über Könige im archaischen Griechenland und in der Frühzeit Roms als Fiktionen erkannt. Mit dem in der Ethnologie erarbeiteten Gesellschaftsmodell von miteinander konkurrierenden, von „Gefährten“ unterstützten Anführern („Big Men“) lassen sich die Gesellschaften vor dem und im Entstehen von Stadtstaaten weit überzeugender erklären als bisher. Weshalb sind die Begriffe „Volk“ und „Kultur“ nicht mehr hilfreich? Das wird verständlich, wenn man sich bewusst macht, dass die Geschichtswissenschaft wie jede andere Wissenschaft im Laufe der Zeit zu neuen Ergebnissen gelangt ist. Über lange Zeit ordnete man die Vergangenheit nach Herrschern und Dynastien, die über Menschen und Territorien herrschten. Erst als am Ende des 18. Jh. das Bürgertum politische Rechte erhalten hatte, setzte man an die Stelle der Herrscher Völker, die hauptsächlich über ihre Sprache voneinander abgegrenzt wurden. Mit der Bildung der Nationalstaaten im 19. Jh. und dem Beginn eines auf die ganze Welt ausgreifenden Kolonialismus begann die biologische Komponente im Volksbegriff die entscheidende Rolle zu spielen und „Volk“ wurde mit „Rasse“ in Verbindung gebracht. Parallel dazu wurde der Begriff der „Kultur“ zu einem Mittel, um das ‚Wesen‘ eines Volkes zu charakterisieren. Es wird behauptet, dass jede Kultur unverwechselbar und von anderen Kulturen klar abgrenzbar sei. In der Erfahrung der auch auf dieser Behauptung beruhenden Katastrophe des 2. Weltkriegs („deutsches Volk“ gegen „Fremdvölker“) beachtete man deshalb ab den 1960erJahren viel stärker als je zuvor die Verflechtungen zwischen „Völkern“ und „Kulturen“. Dabei zeigte sich, dass diese angeblich voneinander abgegrenzten Einheiten weder eindeutige Zentren noch klaren Grenzen besaßen und besitzen. Folgerichtig wurden neue Konzepte erarbeitet wie z. B. Histoire Croisée, Hybridität, Shared History oder Entangled History, und Modelle entwickelt, um untersuchen zu können, unter welchen Bedingungen kulturelle Kontakte zu Neuem oder zu Widerstand und Konflikten führ(t)en. Wichtig: Die Schwierigkeit für viele zu verstehen, dass Volk und Kultur tatsächlich keine nach außen abgeschlossenen, seit jeher in der Geschichte vorhandenen menschlichen Gebilde sind, hängt damit zusammen, dass sich jeder und jede einem Volk, einer Nation oder Kultur zugehörig fühlt. Das Gefühl für die eigene Identität ist allerdings nicht starr und fix, sondern kann sich rasch ändern. Das zeigte sich schon in der Antike. Damals wie heute bezeichnen sich Menschen in ihrem engsten Umfeld oft nach ihrem Ursprungs- oder Wohnort oder der Region, im näheren Ausland nach ihrer Nation (Österreicher/in) und noch weiter entfernt z. B. als Europäer/in – wer sind wir von außen betrachtet dann tatsächlich? Gab es eine „griechische“ und „römische“ Identität? Ja, es gab eine hellenische (= griechische) und römische Identität, aber nicht ‚von Anfang an‘! Wenn wir Identität mit ‚Gefühl der Zugehörigkeit‘ umschreiben, dann wird erkennbar, dass Identität von der Gruppe abhängig ist, der wir zugehören (wollen). Solche Gruppen können die Familie, Vereine, Religionen, ganze Gesellschaften oder Staaten sein. Aber nur dann, wenn die Zusammengehörigkeit von Gesellschaften oder Staaten damit erklärt wird, dass deren Mitglieder einen gemeinsamen biologischen Ursprung, z. B. einen gemeinsamen Ahnen haben, wird Identität ‚ethnisch‘. Diese Vorstellung wird als „Ethnizität“ bezeichnet. Nicht nur die Geschichte, sondern auch die Sozialpsychologie zeigt, dass eine ethnische Identität insbesondere dann an Anziehungskraft gewinnt, wenn eine Gruppe, Gesellschaft, ein Staat von außen bedroht wird. Für die Menschen in Griechenland kam die existenzielle Bedrohung durch die Perserkriege, für die Bewohner Roms durch den 2. Punischen Krieg. Ein Spezialist steht Rede und Antwort Univ.-Prof. Mag. Dr. Christoph Ulf Alte Geschichte Universität Innsbruck MUSTER

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