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35 Dekonstruktion von historischen Darstellungen Nun sprang er, längst von dem starken Wein übermächtigt, plötzlich vom Polster auf. Wie gelähmt setzten die Freunde die Becher nicht etwa hin, sondern ließen sie fallen und erhoben sich dann in atemloser Erwartung, wohin die ungestüme Bewegung des Königs ziele. Alexander entriss einem Waffenträger die Lanze und wollte Klitus, der immer noch in derselben maßlosen Wut Worte hervorsprudelte, durchbohren, wurde aber von Ptolemaios und Perdikkas daran gehindert. […] Aber dem König verschloss der brausende Zorn die Ohren: Seiner selbst nicht mehr mächtig, lief er in den Vorraum des königlichen Quartiers, entriss der Wache dort den Speer und stellte sich in den Eingang, durch den die Tischgenossen den Saal verlassen mussten. Schon waren die übrigen fort, und nur noch Klitus wollte als letzter und ohne Licht den Raum verlassen. Der König fragte, wer er sei; schon seine Stimme verriet dabei deutlich, was er Grausiges plante. Klitus, nun nicht mehr seinen eigenen Zorn, sondern den des Königs im Sinn, erwiderte, er sei Klitus und verlasse das Gastmahl. Wie er das noch sagte, stieß ihm der König den Speer in die Seite. Curtius Rufus, Historiae Alexandri Magni Macedonis, 8. Buch, 3,4 (Kofler, Hg.) Stones Film ist eng an antike Quellen angebunden. Als Grundlage für das Drehbuch diente die Alexander-Biografie des Historikers Robin Lane Fox (1973). Fox war während der Dreharbeiten historischer Berater des Filmteams. Dennoch ergeben sich Unterschiede zwischen Quellentext und Film: Während der Streit bei Stone zusehends eskaliert und Alexander schließlich – übermannt von Zorn – dem Wächter den Speer entreißt und Kleitos tötet, wartet er bei Curtius Rufus, bis alle Gäste das Zelt durch einen einzigen Zugang verlassen haben, und stößt Kleitos nach einem kurzen Wortwechsel nieder. Dadurch wird Alexander zum Mörder, der seinem Opfer auflauert. Bei Stone hingegen handelt er im Affekt. Während bei Curtius Rufus die maßlosen Prahlereien Alexanders den Ausgangspunkt des Streites bilden, provoziert Kleitos im Film Alexander durch Beleidigungen. Außerdem spielt der Gegensatz „harte“ Griechen und verweichlichte „Orientalen“ eine Rolle. Nach Stone will Kleitos, dass Alexander griechisch bleibt. Er beschimpft die Orientalen und äußert sich negativ über die homoerotischen Beziehungen Alexanders zu jungen indischen Männern. Die Frage, wer näher an der historischen Wahrheit ist, lässt sich in diesem Fall nicht klären. Antike Quellen geben verschiedene Darstellungen des Mordes an Kleitos wieder, deren Wahrheitsgehalt wir heute nicht mehr genau bestimmen können. Wichtig ist, dass Sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass historische Darstellungen immer eigene Ziele verfolgen. Schritt 3: Was ist das Filmische am Film? • Welche Mittel wendet der Film an, um Realität zu erzeugen? • Werden komplizierte Geschehnisse vereinfacht dargestellt? • Steht das Handeln einzelner Persönlichkeiten im Mittelpunkt? • Wird das Unerwartete und Überraschende betont? Stone versuchte, historische Wirklichkeitstreue durch Genauigkeit in Details zu erreichen. Er ließ sich dabei von einem Historiker beraten. Trotzdem war er gezwungen, historische Sachverhalte zu vereinfachen. Von den vielen Schlachten Alexanders etwa wird nur jene bei Gaugamela ausführlich dargestellt. Schritt 4: Welche Absichten wurden mit dem Drehen des Filmes verbunden? Welche Ziele hat der Film? War der Film erfolgreich? • Gibt es Interviews mit dem Regisseur oder der Regisseurin bzw. dem Drehbuchautor oder der Drehbuchautorin, die über die Absichten des Films informieren? Im Interview S. 36 wird deutlich, dass Stone Parallelen zwischen der heutigen Globalisierung und Alexanders Eroberungszug sah. Auch der seit 9/11 heftig diskutierte Gegensatz zwischen Ost und West sollte ausgeleuchtet werden. Stone versuchte dabei, Klischees zu vermeiden. Außerdem war ihm die psychologische Deutung Alexanders wichtig. • Gibt es in Filmkritiken Aussagen über die Absichten des Films? • Wird der Film mit Slogans beworben, aus denen man auf die Absichten rückschließen kann? • Hatte der Film wirtschaftlich Erfolg? „Alexander“ wurde wirtschaftlich ein Misserfolg. Produktions- und Marketingkosten von etwa 195 Millionen US-Dollar stand ein weltweites Einspielergebnis in Höhe von etwa 167 Millionen US-Dollar gegenüber. Dekonstruktion historischer Spiefilme MUSTER

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