285 Wie heute in vielen Großstädten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bewirkte Anfang des 20. Jhs. der Bevölkerungszuwachs in den urbanen Zentren Europas das Anwachsen von prekären Arbeitsverhältnissen, Wohnungsnot und Armut. In Wien hatten 1900 nur 38 % der Bevölkerung ein Heimatrecht und damit Anspruch auf Unterstützung aus öffentlichen Mitteln. Etwa 80 000 „Bettgeher“ und „Bettgeherinnen“ konnten sich weder eine Wohnung noch ein eigenes Zimmer, sondern nur ein Bett oder eine Betthälfte als Unterkunft leisten – und das oft nur für wenige Stunden. Die Sozialreportage entsteht Die städtische Armut wurde bald Thema der Medien, die auf das Elend aufmerksam machten, aber auch Neugier und Sensationslust befriedigten. Es entstand das neue Genre der Sozialreportage. In Wien veröffentlichte der Journalist Max Winter in der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung erstmals „Reportagen vom gesellschaftlichen Rand“. Mit dem Werk „Wiener Quartiere des Elends und des Verbrechens“ des Journalisten Emil Kläger und des Fotografen Hermann Drawe fand die Berichterstattung über das Elend der Armen in Wien 1908 einen Höhepunkt. Selbst als Obdachlose verkleidet spürten die zwei Reporter ihren Opfern nach, um die Armut publikumswirksam festzuhalten. Als Verkaufsschlager lief die entsprechende Diashow Jahre lang im Volksbildungshaus Urania und das Buch Klägers wurde ein Bestseller. Aufgaben 1 Die sozialdemokratische Arbeiterzeitung kritisierte, dass Kläger und Drawe das „alltägliche“ Elend der Arbeiterklasse verschleiern würden und sie in die Nähe der – ohnehin bereits verlorenen – „Jammerexistenzen“ rückten, d. h. in die Nähe von Verruchtheit und Verbrechen. Konkretisieren Sie mit eigenen Worten diesen Vorwurf. (PU) 2 Der deutsche „Aufdeckerjournalist“ Wallraff arbeitete getarnt als türkischer Gastarbeiter in deutschen Unternehmen, versuchte, als Schwarzer in Deutschland eine Wohnung zu mieten u. Ä. Welche Rolle würden Sie wählen, um soziale Missstände aufzudecken? Begründen Sie Ihre Entscheidung. (PH) Die letzten Obdachlosenunterschlüpfe im Wienkanal fanden wir außerhalb der Umwölbung beim Stadtpark. Wir mussten einen vor Schmutz starrenden Aufzugsschacht besteigen, in dessen Hintergrund sich die so genannte „Schmittn“ befindet, ein kleiner, aus Ziegeln gemauerter gewölbter Raum, in dem während des Kanalbaues eine Schmiede installiert war. Hier schliefen auf einem umgestürzten Schiebkarren zwei junge Burschen. In ihrem Gesichte lag der Ausdruck gierigen Verlangens nach Ruhe. Ihre Leiber rangen förmlich um ein Stückchen Platz für sich. […] Es war ein Bild, das die Phantasie eines Künstlers geschaffen haben könnte, den soziale Empörung mächtig bewegt hat. Kläger, Wiener Quartiere der Not und des Verbrechens, S. 72. 4.3 Ganz unten. Die Entdeckung des Elends 285.1 Hermann Drawe, Obdachlose Jugendliche in der Wiener Kanalisation (1908). Wien um 1900 – Aufbruch in die Moderne MUSTER
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