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283 Wie würden Sie für Schülerinnen und Schüler den Begriff „Wiener Moderne“ definieren? Das ist keine leichte Frage. Ich würde erstens betonen, dass die Wiener Moderne eine Variation zum Thema ist. Wien hat sich gegen Berlin sozusagen definiert. Das Wesentliche ist der Kontrast zwischen der Begeisterung für Wissenschaft, für Fortschritt und Technik sowie die kulturelle Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen, wie wir es in Deutschland finden, und der „Romantik der Nerven“, [Wendung nach innen, in den Bereich des Seelischen, des Gefühls] wie es der Schriftsteller Hermann Bahr für Wien zusammenfasst. Die Wiener Moderne orientiert sich nach innen, an psychischen Zuständen und konzentriert sich auf das, was ich spüre und fühle, weg von der Welt, sozusagen in mich hinein. Sie haben sich in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit intensiv mit der Frage der Entstehung eines kreativen Milieus auseinandergesetzt. Welche wesentlichen Gründe für dieses Phänomen würden Sie für Wien um 1900 nennen? Basis waren die Konzentration von Reichtum und die „Konzentration von Bevölkerung“ in Wien. Alle Arten von Menschen sind nach Wien gekommen, einschließlich der kreativsten Gruppe, der Juden, welche seit dem 18. Jh. eine Tradition der Aufklärung gepflegt haben. Wichtige Voraussetzungen waren also Freiheit von materieller Not und Zeit. Auch negative Faktoren, wie z. B. die Zensur, oder auch die vielfältigen politischen und sozialen Grenzen, die Grenzen des Geschmacks, waren Herausforderungen. Mit diesen Grenzen zu spielen war auch ein Faktor in der Entwicklung der Kreativität. In einem Ihrer Artikel findet sich der Begriff „Silicon Valley [Zentrum der US-amerikanischen Computerindustrie] des Geistes“ für das Wien der Jahrhundertwende. Könnten Sie dieses Bild erläutern? Das ist nicht positiv, sondern negativ gemeint. Ich distanziere mich in diesem Artikel von diesem Begriff. Silicon Valley ist klein, abgelegen, es ist keine Gesellschaft. Silicon Valley konzentriert technisches Wissen, Wien um 1900 konzentrierte klassische Bildung. Alle Kulturschaffenden haben relativ leicht Lateinisch sogar reden können. In diesem Zusammenhang muss man erwähnen, dass das von Leo Thun-Hohenstein [österreichischer Politiker, 1849–1860 Minister für Cultus und Unterricht] reformierte österreichische Erziehungssystem hervorragend war. Das haben zwar alle gehasst und gesagt, es wäre die Hölle, aber es war unübertroffen. Auch die Tatsache, dass die Intellektuellen zur damaligen Zeit die Sportler unserer Zeit sind, spielte eine wichtige Rolle. Sie waren die Helden. Heute verehren wir die Sportler, um die Jahrhundertwende verehrte man die Intelligentesten. Dem Primus [besten Schüler] in der Schule hat man die Tür aufgemacht, der war jemand. Wenn Sie eingeladen würden, vor österreichischen Jugendlichen einen Vortrag über eine der genialen Persönlichkeiten des Wiens der Jahrhundertwende zu halten, wen würden Sie aussuchen? Diese Frage ist die unmöglichste, die es gibt. [lacht] Ich habe trotzdem eine Antwort: Egon Friedell. Sehr bekannt ist ja seine Parodie „Goethe in der Schule“, in der Goethe in der Schule ein Referat über sich selbst halten muss und durchfällt. Er war zwar kein typischer Vertreter der Wiener Moderne, aber ein genialer, vielseitiger, sehr witziger Mensch, Schauspieler, Begründer des „Cabaret Fledermaus“. Er war sehr gebildet, aber ein Mensch aus der Unterhaltungswelt. Er schrieb das Meisterwerk „Die Kulturgeschichte der Neuzeit“. Danke für das Interview. Aufgaben 1 Geben Sie Janiks Definition des Begriffs „Wiener Moderne“ in eigenen Worten wieder. Erklären Sie, was er meint, wenn er die Wiener Moderne als „eine Variation zum Thema“ bezeichnet. (HM) 2 Arbeiten Sie jene Faktoren heraus, die nach Meinung Janiks ausschlaggebend dafür waren, dass Wien zum Zentrum der Moderne wurde. (HM) 3 Janik bezeichnet Wien um 1900 als „Silicon Valley des Geistes“. Erklären Sie, welche Kritik er mit diesem Vergleich ausdrückt. (HM) Das kreative Milieu Interview mit Univ.-Prof. Dr. Allan Janik, Mitarbeiter des Forschungsinstitutes Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck Wien um 1900 – Aufbruch in die Moderne MUSTER

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