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252 Das „lange“ 19. Jahrhundert Die Einteilung der Zeit in Epochen nennt man Periodisierung. Historiker und Historikerinnen „periodisieren“ zur besseren Orientierung die Vergangenheit, d. h., sie fassen bestimmte Zeitabschnitte mit gemeinsamen Merkmalen zu Epochen zusammen. Die Grenzen zwischen verschiedenen Zeitabschnitten sind dabei nie punktuell, sondern immer fließend. Für manche Zeiträume gibt es auch unterschiedliche Periodisierungen. Periodisieren – aber wie? Nennen Sie Anfangs- und Endpunkte der historischen Zeitabschnitte. Führen Sie die Argumente von Bauer und Hobsbawm für „ihre“ jeweilige Periodisierung an. (HS) Selbstversuch: Periodisieren Sie Ihr eigenes Leben. Benennen Sie das erste historische Ereignis, an das Sie sich erinnern können. (HM) Interviewen Sie Ihre Eltern und Großeltern, in welcher Weise Begebenheiten der „großen Geschichte“ ihr privates Leben beeinflussten, und fassen Sie ihre Aussagen zusammen. (HM) Das „lange“ 19. Jahrhundert Inwiefern lässt sich nun das lange 19. Jahrhundert, die Zeit von 1789 bis 1917, als eine eigenständige Epoche begreifen? Man kann es als das Zeitalter des Liberalismus und der Verfassungsbestrebungen bezeichnen, der Ausbildung des bürgerlichen Rechtsstaates und der Parlamentarisierung, der nationalen Bewegungen und Bestrebungen, des nationalstaatlichen Chauvinismus, des Imperialismus; es ist, mehr vielleicht als alles andere, das Zeitalter des Kapitalismus, des wissenschaftlichen und technischen Fortschrittes, des Aufstiegs der Industrie und des strukturellen Wandels, der Urbanisierung und des Aufkommens der Großstadt als Entstehungsort und Schauplatz modernen Lebens, moderner Zivilisation. […] Es ist eine Zeit dramatischer Beschleunigung von Transport und Verkehr sowie von Nachrichtenübermittlung durch Eisenbahn und Dampfschiff und Telegraphie. Wir können das 19. Jahrhundert aber auch apostrophieren als das Zeitalter des Bürgertums schlechthin, denn so gut wie alles, was diese Epoche an Neuem hervorbrachte in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, wurde getragen und geschaffen von Angehörigen der bürgerlichen Schichten. Wir beobachten des weiteren in diesem Jahrhundert ökonomische Ausbeutung (der neuen Arbeiterschicht) und soziale Ungleichheit. Bauer, Das „lange“ 19. Jahrhundert, S. 14–16. Das „kurze“ 20. Jahrhundert Wie können wir dem „kurzen 20. Jahrhundert“ einen Sinn abgewinnen, also den Jahren vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion? […] Die Struktur des Kurzen 20. Jahrhunderts erscheint wie eine Art Triptychon [dreiteiliges Gemälde] oder historischer Sandwich. Dem Katastrophenzeitalter von 1914 bis zu den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges folgten etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre eines außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums und eine sozialen Transformation, die die menschliche Gesellschaft wahrscheinlich grundlegender verändert haben als jede andere Periode vergleichbarer Kürze. Retrospektiv kann diese Periode als eine Art Goldenes Zeitalter betrachtet werden, und sie wurde auch beinahe sofort, nachdem sie in den frühen siebziger Jahren zu Ende gegangen war, als solche empfunden. Im letzten Teil des Jahrhunderts begann dann eine neue Ära des Verfalls, der Unsicherheit und Krise – und für große Teile der Welt, wie für Afrika, die ehemalige Sowjetunion und den ehemals sozialistischen Teil Europas, in der Tat eine Ära der Katastrophe. […] In der Perspektive der Neunziger erschien das Kurze 20. Jahrhundert auf dem Weg von einer Krise durch ein kurzes Goldenes Zeitalter in eine andere, mit Ausblick auf eine unbekannte und problematische, aber nicht notwendigerweise apokalyptische [katastrophale] Zukunft. Aus: Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Übers. von Yvonne Badal, 1995 Carl Hanser Verlag München, S. 20 f. MUSTER

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