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225 humorvoll und sehr witzig. Er hatte z. B. einen Mittagsstammtisch in Königsberg und dort wurde nicht nur über philosophische Probleme diskutiert, sondern über Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Also Kant ist für mich vor allem durch seine „Kritik der Vernunft“ ein Vorbild. Und Voltaire ist der zweite. An Voltaire schätze ich besonders seine Kritikfähigkeit, die meistens verbunden war – was ihn menschlich vielleicht etwas unsympathisch erscheinen lässt – mit großer Ironie. Er hat alle menschlichen Schwächen aufs Korn genommen. Welche soziale Schicht ist der Träger der Aufklärung? Das sind für mich zwei Schichten. Natürlich das Bürgertum, insbesondere das Bildungsbürgertum, aber auch der Reformadel, den vergisst man manchmal. Am deutlichsten wird sein Einfluss im Zusammenhang mit den Reformmaßnahmen im Rahmen des Aufgeklärten Absolutismus. Der Hauptträger war aber zweifelsohne die Bildungsschicht des Bürgertums. Warum entwickelte sich die Aufklärung gerade im 18. Jh. und nicht früher? Da gibt es eine einfache Erklärung, die gesellschaftliche Entwicklung war noch nicht so weit vorangeschritten, dass die Aufklärung sich durchsetzen hätte können. Genau genommen beginnen ja die Aufklärungsbestrebungen schon mit Humanismus und Renaissance, sie bekommen dann einen sehr starken Motivationsschub durch die beiden englischen Revolutionen – die Frühaufklärung entsteht ja in England und greift dann auf Kontinentaleuropa über. Ist die Aufklärung ein europäisches Phänomen oder gibt es sie anderswo auch? Also primär ein europäisches Phänomen, und ich würde sogar einschränken, primär ein westeuropäisches Phänomen. Die Aufklärung ist eine Kopfgeburt Westeuropas und von Teilen Zentraleuropas, in Osteuropa gab es sie nur sehr abgeschwächt, aber sie war auch dort verankert – zum Beispiel unter Katharina II. Wenn man Weltdimensionen miteinbezieht, dann muss man sagen, dass es Aufklärung schon in früheren Zeiten in außereuropäischen Kulturen gegeben hat. Ich darf ein Beispiel herausgreifen: Man sagt ja immer, dass der Fundamentalismus in den arabischen Staaten deswegen heute so dominant sei, weil es dort keine Aufklärung gegeben hätte. Das ist totaler Unsinn. Es gab z. B. im Mittelalter in arabischen Staaten eine sehr, sehr starke Aufklärung. Der Aufstieg der Naturwissenschaften und der Wissenschaften in Europa wäre ohne den Einfluss der arabischen Aufklärung überhaupt Wenn Sie in einer Mindmap die fünf wesentlichsten Begriffe um das zentrale Wort „Aufklärung“ anordnen müssten, welche würden Sie wählen? An der Spitze steht der Begriff „Vernunft“, dann folgen die Begriffe „Selbstdenken“, „Kritik“, „Toleranz“ und „Emanzipation“. Könnten Sie kurz erklären, wie Sie zu dieser Reihung gekommen sind. Die gesamte Aufklärungsbewegung trotz ihrer unterschiedlichsten Strömungen beschäftigt sich mit der Kritik der Vernunft. Deshalb ist die Vernunft eine ganz zentrale Kategorie des Aufklärungsdenkens. Selbstdenken ist eine Forderung von Immanuel Kant, das ist etwas sehr Wesentliches, weil Selbstdenken gleichzeitig auch Selbstkritik heißt. Kritik allgemein umfasst alle Bereiche der Gesellschaft, insbesondere auch die Wissenschaft, deshalb ist Kritik eine zentrale Kategorie. Toleranz ist – würde ich meinen – ein Nebenprodukt dieser verschiedenen Begriffe, aber wichtig, weil dieser Begriff die Verhaltensweise des aufgeklärten Menschen charakterisiert: z. B. offen sein gegenüber allen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Emanzipation heißt nach Kant der Ausweg aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Deshalb auch dies ein zentraler Begriff der Aufklärung. Haben Sie einen Lieblingsaufklärer? Wenn ja, welchen? Zwei habe ich, Immanuel Kant, weil er gar nicht so abgehoben und trocken war, wie man oft in Philosophiegeschichten nachlesen kann, sondern ziemlich Über die Aufklärung Interview mit Univ.-Prof. i. R. Dr. Helmut Reinalter, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Innsbruck, Experte für Aufklärungs- und Ideengeschichte der Neuzeit Expertengespräch: Aufklärung MUSTER

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