114 Migration und Expansion Was heißt eigentlich „Österreich“? „Österreich“ heißt der uns bekannte Kleinstaat, die Zweite Republik, das heutige Österreich in seinen Grenzen seit 1918 mit den neun Bundesländern. Natürlich bedeutete das früher etwas anderes. Das Kaisertum Österreich wurde 1804 als eigener Staat gegründet, es löste sich aus dem Heiligen Römischen Reich heraus. Dieser Staat hieß ab 1867 Österreich-ungarische Monarchie oder auch Habsburgermonarchie. Bei einem noch weiteren Blick in die Vergangenheit begegnen wir den Begriffen „Haus Österreich“ oder „Monarchia Austriaca“. So bezeichnete man die Erbländer, die unter dem Haus Habsburg vereint waren. Die „Casa de Austria“ ist ein stehender Begriff für die Frühe Neuzeit. Das Herrschaftsgebiet wurde bei den Habsburgern zum Familiennamen. Im Mittelalter stand „Österreich“ für das relativ kleine Herzogtum und spätere Erzherzogtum Österreich. Von diesem Herzogtum ausgehend wurden die anderen Länder von den Habsburgern angegliedert. Der Begriff hat die anderen Besitzungen der Habsburger mit eingeschlossen. Wie kann man die österreichische Geschichte im Mittelalter von der deutschen abgrenzen? Die kann man gar nicht abgrenzen. Alle späteren Begriffe passen nicht für das Mittelalter. Auch der Begriff Europa passt nicht. Genauso wie die Staaten erst im Laufe von Jahrhunderten geworden sind, so sind auch die Völker erst entstanden. Allmählich entsteht etwas, was wir heute als selbstverständlich erachten. Was ist so besonders und wichtig an der österreichischen Geschichte, dass es einen Lehrstuhl für österreichische Geschichte gibt? Das ist nicht nur in Österreich so, sondern auch in anderen Ländern. In Österreich gab es im 19. Jh. ein großes Bedürfnis, den Vielvölkerstaat mit einer gemeinsamen Geschichte zusammenzubinden, eine verbindende Klammer für die verschiedenen Nationen zu finden. Im Gespräch mit einer Expertin für österreichische Geschichte In Preußen und Bayern etwa beschäftigte man sich auch mit der Landesgeschichte. Landesgeschichte und die Staatengeschichte haben eine lange Tradition. Was sollten Jugendliche über die Anfänge der österreichischen Geschichte wissen? Im Mittelalter finden sich völlig andere politische, wirtschaftliche und kulturelle Gegebenheiten. Die „Fremdheit“ des Mittelalters sollte erfasst werden. Das allmähliche Zusammenwachsen der „österreichischen“ Länder zu einem gemeinsamen Staat im modernen Verständnis kann Einsichten vermitteln, die auch heute noch für den europäischen Einigungsprozess von Interesse sind. Was sagen Sie dazu, dass im Jahr 1996 1 000 Jahre Österreich zelebriert wurde? Durch Jubiläen wird öffentliches Interesse an Geschichte geweckt. In der Wissenschaft ist man sich aber einig, dass es sich um ein willkürliches Datum handelt. Der Inhalt der Ostarrichi-Urkunde ist nicht wirklich bedeutend für die österreichische Geschichte. Nach 1945 wurde die Urkunde wichtig, da man den Kleinstaat mit einer historischen Tiefendimension ausstatten wollte. So stilisierte man 1946 diese Urkunde zur großen Gründungsurkunde Österreichs hoch. 1996 wurde eigentlich der „Namenstag“ von Österreich gefeiert. In katholischen Ländern hat man eine Freude an Namenstagen, warum sollte Österreich seinen Namenstag nicht auch in dieser Form feiern? Ab wann kann man von Österreichern und Österreicherinnen sprechen? Nach eigenem Selbstverständnis wohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Vorher war die Abgrenzung von den Deutschen sehr wichtig. Rein juristisch ab der Ersten Republik 1918. Vielen Dank für das Gespräch! Interview mit Univ.-Prof. Dr. Brigitte Mazohl, Leiterin des Instituts für Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften MUSTER
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