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108 Migration und Expansion 1.4 Freiheit, Gleichheit, Schutz 108.1 Wiener Stadtmauer Blickrichtung Schottenbastei, kurz vor Beginn der Abbrucharbeiten 1860. Im Mittelalter erhielt Wien eine zeitgemäße Stadtmauer. Der Bau wurde durch das enorme Lösegeld ermöglicht, das Richard Löwenherz 1193 für seine Freilassung an Leopold V. ( S. 117) bezahlte. Die mittelalterliche Mauer mit fünf Toren und 19 Türmen umschloss das Gebiet der heutigen Inneren Stadt (etwa so wie die heutige Ringstraße). Damit sie instand gehalten werden konnte, übertrug der Landesherr den Wienern die Burgmaut (Stadtzoll). Schutz und Freiheit Eine mittelalterliche Stadt war ein von wehrhaften Mauern umschlossener Raum, den man durch meist schön geschmückte Tore betrat. Die Mauern boten Sicherheit und Schutz vor äußeren Feinden, sie signalisierten aber auch eine klare Trennung zwischen dem Lebensraum der Stadt und des Landes. Der größte Unterschied lag in der rechtlichen Situation der Bewohnerinnen und Bewohner. Das Stadtrecht gewährte den Bürgern persönliche Freiheit, die Entlassung aus grundherrschaftlichen Pflichten, den Schutz vor willkürlichen Übergriffen sowie die Erlaubnis, selbst Grund zu besitzen und zu vererben. So konnten auch Hörige nach „Jahr und Tag“ den Status von Bürgern annehmen („Stadtluft macht frei“). Wie wird man Bürger oder Bürgerin? Bürger oder Bürgerin wurde man durch das Ablegen eines Eides. Damit integrierte man sich freiwillig in das städtische Gemeinwesen und schwor, den städtischen Frieden zu wahren. Die Stadt verpflichtete sich ihrerseits, Schutz und Rechtssicherheit zu gewähren. Voraussetzungen für die Aufnahme waren die sogenannte „Haushäblichkeit“ (=Besitz eines Hauses, das „mit Feuer und Rauch“ bewohnt wurde), die Bürgschaft zweier ansässiger Bürger oder die Bezahlung eines Einbürgerungsgeldes, dessen Höhe von der Stadt festgesetzt wurde. Auf diese Weise kontrollierte man den Zuzug. Rechtliche Gleichstellung Mit der persönlichen Freiheit waren die allgemeine Gleichheit vor Gericht und das Stadtrecht verbunden. Alle Bürger konnten unabhängig von ihrem Vermögen und ohne Standesunterschiede vor dem Stadtgericht Recht einfordern. Unter zum Teil von der Bürgerschaft selbst gewählten Richtern bildeten sie eigene Gerichtsgemeinden, die nicht dem Stadtherrn unterstanden. Soziale Unterschiede Trotz Gleichheit vor dem Recht gab es in den Städten soziale Unterschiede. Reichtum, Beruf und Familie bestimmten Einfluss und Macht innerhalb der Bürgerschaft, Arbeitslosigkeit und Armut bewirkten auch in den Städten den gesellschaftlichen Abstieg. Gliederung der Ulmer Stadtbevölkerung Weil die Stadt Ulm voller Menschen ist und ihre Bewohner ungeheuer zahlreich sind, ist eine Ordnung notwendig. [. . .] So gibt es in der Stadt Ulm sieben Unterscheidungen der Bürger. [. . .] Erstens die Geistlichen als Mittler zu Gott, zweitens die Adeligen, die die Stadt verteidigen, drittens die hervorragenden und berühmten Geschlechter, die als führender Stand der Bürger die Stadt regieren, viertens die Ehrbaren und Bescheidenen, die mit Rat und Tat helfen und vielfach ebenso alt und sogar edler als die vorgenannten sind, sich jedoch durch ihre Zugehörigkeit zu einer Zunft unterscheiden, weshalb sie nicht die Vorrechte der anderen teilen, fünftens die Kaufleute, der Stand, mit dem alle anderen in Beziehung stehen und in den mancher aus den anderen Ständen ab- oder aufsteigt, sechstens die Vielfalt der Handwerker, siebtens schließlich die große Zahl der Einwohner Ulms, die der Bürgerschaft nicht angehören und unter denen es Edle, Reiche, Unadelige und Arme gibt. Fratris Felicis Fabri, Tractatus de civitate Ulmensi. MUSTER

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